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nmz-archiv
nmz 2002/06 | Seite 38
51. Jahrgang | Juni
Jazz, Rock, Pop
Und flinke Hände tanzen über das Vinyl...
Moers 2002: Aufsehen erregende Präzision trifft auf generöses Publikum
Bandleader Mathias Rüegg mag die Inszenierung seiner Führungsrolle überhaupt nicht. Meist steht
er lässig am Bühnenrand, und wenn er gestisch ins Geschehen eingreift, dann ist auch dies ein entspannter
Gegenpol zur Aufsehen erregenden Präzision seines Vienna Art Orchestras, das beim 31. Moers-Festival
sein 25. Bühnenjubiläum feierte.
Vernetzen Elektronik und Improvisation: Roots and Wires. Foto:
Pieper
Spielfreudig und vor gewitzter Musikalität sprühend, schleuderten die Wiener jede Klischee-Vorstellung
von rigidem Big-Band-Jazz in hohem Bogen über den Bühnenrand im Moerser Zirkuszelt. Der enge Zeitplan
war beim Vienna Art Orchestra ausnahmsweise großzügig und erlaubte gleich zwei ausgiebige Konzerte
anderen wurde allzu früh der Saft abgedreht: Als sich Louis Sclavis mit seinem Napolis
Walls-Projekt gerade in die höchsten Höhen einer mitreißenden Improvisationsmusik gespielt
hatte, signalisierte der Tonmixer das bevorstehende Ende des Sets und da Sclavis von Fremdbestimmtheit
weder persönlich noch musikalisch etwas hält, waren wütende Gesten des Franzosen die Folge. Zu
Recht, denn wo sich andere regelmäßig wiederkehrende Beiträge beim Moerser Festival allmählich
musikalisch abzunutzen beginnen (auch die bunte Tanz-Performance des Tokioer Shibusashirazu-Orchestra gehört
leider dazu...), da lädt Sclavis immer wieder aufs Neue ein zur Teilnahme an den aktuellsten Stationen
auf dem Weg seines unermüdlichen Schaffens. Auch andere Künstler und Bands, zum Beispiel der mutige
Song-Interpret, Experimental-Vokalist und Stimmakrobat Phil Minton in einer Band vereinigt mit dem ausdrucksgewaltigen
Gitarrist Luc Ex, die überraschende Newcomer-Folk-Pop-Gruppe Dadafon aus Norwegen oder das viel bejubelte
Konzert des Moscow Art Trios verhalfen auch dem diesjährigen Moerser Festival zur Besinnung auf seine eigentliche
Intention. Längst ohne den Zusatz New Jazz...
uskommend, negiert das Moers-Festival den Warencharakter der großen Stars, die Kalkulierbares bieten,
um damit für sich selbst, die Veranstalter und den zahlenden Musik-Konsumenten das Risiko zu minimieren.
Schon lange, bevor das diesjährige Programm überhaupt bekannt war, lief schon der Vorverkauf
denn das Publikum ist ausgesprochen generös, wie Louis Sclavis im Interview diese außergewöhnliche
Offenheit der Musikhörer im Moerser Zelt charakterisiert. Wenn auch vereinzelten Konzerten mittlerweile
der Hauch von risikoscheuer Beliebigkeit anhaften mag so bleibt diese doch ein Randaspekt, wenn es um
die Grundsubstanz des Moers-Festival im 31. Jahr seines Bestehens geht. Vor allem die Vormittagsprojekte sind
eine wichtige Ressource für das Generieren und Weiterentwickeln musikalischer Ausdrucksformen etwa,
wenn der Kölner Frank Schulte mit internationalen Kollegen aus der elektronischen Avantgarde eine komplexe
Klangfabrik zusammenstellt, in der sich Programmiertes und sinnlich Erfahrbares miteinander vereinten.
Das undurchschaubar anmutende Zusammenwirken der Menschen und Maschinen kreierte in Moers variable Formen und
fließende Strukturen einer offenen music concrete, in der vereinzelt das Zitat einer Melodie
oder der Fetzen eines bekannten Songs schemenhaft hervorkamen, um sofort wieder in diesem Klangstrom aus Sinusfrequenzen,
Rauschen, Industrielärm und Vinylknistern zu zerfließen.
Eines der diesjährigen Moerser Schwerpunktthemen war die Schweizer Musikszene, die sich in Moers überzeugend
als Brennpunkt freigeistiger Kreativität darstellen konnte. Roots and Wires heißt eine
Formation, die eine konsequente Vernetzung von experimenteller Elektronik mit ungestümer Freejazz-Idiomatik
betrieb. Da konnte ruhig einmal ein elektrisches Cello in den Dialog mit dem Scratching auf den Plattenspielern
der aufgebotenen DJs treten, die expressiv und virtuos ihre Hände über das Vinyl tanzen ließen.
Mit dem Schlagzeuger Lucas Niggli präsentierte die Schweiz einen weiteren Ausnahme-Musiker. Mal gab er
einer exzellenten Trio-Besetzung die nötige ungestüme Energie, auf der nicht zuletzt ein bestens aufgelegter
Posaunist Nils Wogram sein ganzes, hoch ausgereiftes Potenzial entfalten konnte dann wieder wurde Niggli
zum treibenden Motor für den wohl rockigsten Beitrag des Festivals: Steamboat Switzerland machte
mit vertracktem Metal-Trommelfeuer, psychedelisch frisierten Hammond-Orgeln und sägenden Gitarren so viel
Dampf, dass es so manchem Puristen zu viel wurde.