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nmz-archiv
nmz 2002/06 | Seite 22
51. Jahrgang | Juni
Bücher
Eine permanente existenzielle Unruhe
Die ganze Geschichte: Roel Bentz van den Berg über magische Momente der Popkultur
Roel Bentz van den Berg: Die ganze Geschichte. Magische Momente der Popkultur, edition suhrkamp
Wer nur von Musik etwas versteht, versteht auch von Musik nichts, lautete einst das intellektuelle Leitmotiv
des großen kosmopolitischen Pianisten Claudio Arrau. Die bedeutendsten unter den schriftstellernden Pop-Aficionados,
die nie nur Archivare, sondern immer auch Poeten waren, haben sich von Anfang an diese Devise zu Eigen gemacht.
Was sie hörten, öffnete und erklärte ihnen eine ganze Welt. Greil Marcus zum Beispiel entdeckte
in den Songs, die ihn begeisterten, das andere Amerika, den Underground des Lebens, der von den Strukturen der
Macht und den fatalen Entscheidungen der Einzelnen versehrt wurde. Seine Bücher waren immer Soziologie
und Vision, Dokument und Predigt.
Der europäische Greil Marcus ist Roel Bentz van den Berg: nicht so verbissen-phänomenologisch und
so verquer-analytisch vielleicht, dafür assoziativer. Wo Greil Marcus vor allem Sammler und Spurensucher
ist, ein Detektiv der Gegen-Kultur, der Belege für seinen großen Prozess aufeinander häuft,
da ist Roel Bentz eher einer, der in fremde Kleider schlüpft, Masken und Rollen ausprobiert.
Pop als Befreiung: Jedes Riff öffnet die Pforten der Wahrnehmung, jeder Song ist der Beweis, dass es auch
ganz anders geht. Bei Roel Bentz wird Pop zum Labor, in dem Probe-Existenzen durchgespielt werden. Jeder neue
Sänger entwirft eine mögliche Welt, jeder neue Song erweitert die eigene Biografie. Das alte Diktum
des jungen Marx, dass der wirkliche Reichtum im Reichtum der wirklichen Beziehungen bestehe, variiert Roel Bentz:
je mehr Lieder einer kennt, je mehr Geschichten einer gelesen und je mehr Filme er gesehen hat, desto mehr weiß
er von sich und der Welt, desto mehr Register kann er auch in seinem eigenen Dasein ziehen.
Nach seinem ersten Buch Die Luftgitarre hätte man noch meinen können, dass Roel Bentz
ein, wenn auch eigenwilliger, Exeget der Pop-History ist. Spätestens mit seinem neuen, Die unsichtbare
Faust, wird deutlich, dass für ihn die Musik nur ein Teil der Popkultur ist, deren magische
Momente er nicht nur untersucht, sondern auch weiterfantasiert. Neben Elvis, in den er schon als Kind
hineinschlüpfte, weil er glaubte, dass sich so die Welt verwandeln ließe, rückt jetzt Jack Kerouac,
der große Befreier, der vom Unterwegssein kündet und Nacht für Nacht, angeschlossen
an den großen himmlischen Dynamo, auf seiner Schreibmaschine Kilometer um Kilometer zurücklegt
und so, Jetzt! Jetzt! Jetzt! ausrufend, ein Amerika entwirft, aus dem Geschäftssinn und Machtgier
verschwunden sind, in dem nur die einzigartigen Bebop- und Rausch- und Liebes-Augenblicke und die Zen-Reflexe
zählen. Roel Bentz ist aber kein Träumer, Schönredner oder Utopist. Er berichtet auch vom dunklen,
bösen Ende Kerouacs, vom Reich des Schnapses, der Ressentiments und des jähen Todes.
Und seine besondere Vorliebe gilt den düsteren Sängern und Poeten: Dem men in black Johnny
Cash, der Schwarz tragen wollte, solange es auf der Welt noch Unrecht gibt, als könne er so
das große Elend in sich aufsaugen; Cash, dem Unzeitgemäßen, der glaubt, er sei 200 Jahre zu
früh oder zu spät geboren; Cash, der in seinem Mitleiden so klar und unerbittlich bleibt, dass selbst
die schwersten Jungs in Folsom oder San Quentin unwillkürlich den Atem anhalten, wenn er von und zu ihnen
singt. Oder dem, wie er sagt, und er meint es als Kompliment, vollständig nackten gottverdammten
Schauspieler Harvey Keitel, dem Mean Street Messiahs, wie er ihn nennt, der so weit weg ist
von aller bloßen actors studio-Virtuosität, dass es bestürzend und erleuchtend
sein kann, ihm bei der Arbeit zuzuschauen. Oder dem vollkommen desillusionierten Neuerfinder der Short Story,
Raymond Carver, dessen Geschichten jeden Moment eine peinliche Wendung nehmen können und dessen
Lektüre zu einem panischen Wiedererkennen führen kann. Oder Bruce Springsteen, der für Roel Bentz
im Land der neurotischen winner ein Boss bestenfalls der looser ist; einer, dessen Lieder
identisch sind mit der grundlegenden Stimmung der amerikanischen Seele und des Rock n
Roll, sofern er mehr ist als nur billige Unterhaltung und leere Teenager-Versprechen, nämlich: ein
Zustand permanenter existentieller Unruhe, die sich aus der Vermutung speist, irgendwann einmal sei etwas ganz
Fürchterliches geschehen, ohne dass jemand exakt wüsste, was. Es geht um ein geheimes Verbrechen
oder ein Trauma, kurz: um die amerikanische Version der Erbsünde. Aber obwohl sich Roel Bentz
in den dunkelsten Winkeln der Existenz auskennt und durchaus auch gerne aufhält, ist seine Prosa alles
andere als trostlos; in den besten Momenten (und von denen gibt es viele!) sogar beglückend. Das liegt
vielleicht daran, dass er die erstaunlichsten Metaphern in ein unheimliches Medium verwandelt: man erkennt,
vollkommen ungeschönt, den Status quo und bekommt doch zumindest eine Ahnung vom anderen Zustand.