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nmz-archiv
nmz 2002/06 | Seite 17
51. Jahrgang | Juni
Rezensionen
Klingende Bilanz
CD-Veröffentlichungen zu Abbados Abschied
Das Publikum verehrt ihn heute noch mehr als früher, in aller Welt wie in Berlin. Als Claudio Abbado dort
am 26. April sein letztes Konzert als Künstlerischer Leiter der Philharmoniker dirigierte, wollten ihn
die Zuhörer nicht mehr vom Podium lassen. Es gab, wie wohl noch nie in der Geschichte der Philharmonie,
eine halbstündige stehende Ovation und ein Meer von Blumen. Dabei hatte sich das lange Programm, nach dem
Schicksalslied von Brahms und fünf Rückert-Liedern Mahlers in einem experimentellen zweiten
Teil mit der verstörenden Filmmusik zu King Lear setzte sich Abbado erstmals mit Schostakowitsch
auseinander von Nostalgie entschieden entfernt. Offenbar wollte er als ein Mann des Neuen im Gedächtnis
bleiben, als Mittler zwischen den Künsten, als Wanderer im Sinne seines Freundes Luigi Nono.
Zu den bewegendsten Momenten des Abends gehörte das von Waltraud Meier mit unendlichem Atem vorgetragene
Ich bin der Welt abhanden gekommen, das in Streichern und Englischem Horn magisch ins Nichts verebbte
und damit an den Wunsch des Dirigenten erinnerte, sich zunächst für ein Jahr aus dem Konzertleben
zurückzuziehen. Auch auf der Italien-Tournee, die dem Berliner Konzert folgte, waren diese bedeutungsvollen
Lieder mehrfach zu hören. Beim eigentlichen Abschiedskonzert am 13. Mai im Wiener Musikverein
stand jedoch Mahlers energiegeladene siebte Symphonie auf dem Programm ein Indiz dafür, dass von
einem endgültigen Abgang vom Konzertpodium nicht die Rede sein kann. Auch in Berlin freut man sich bereits
auf Abbados Wiederkehr als Gastdirigent ab 2004.
Die Moderne bleibt ausgespart: Das konstatiert Albrecht Dümling in
seinem Bericht über Abbados CD-Veröffentlichungen zum Abschied aus Berlin und von den Berliner
Philharmonikern. Unser Bild zeigt dafür den anderen Abbado: das Engagement für die
Zeitgenossen, für Nono, Ligeti, Kurtág und andere. Abbado gründete auch das Gustav-Mahler-Jugendorchester
und das Festival Wien Modern. Dort entstand auch unsere Aufnahme: Gespräche nach einer
Konzertprobe im Musikverein mit (von links) Kurtág, Furrer, Abbado und Rihm. Foto: Charlotte Oswald
Nach einer triumphalen Brahms-Interpretation war der stille Mailänder 1989 überraschend zum Karajan-Nachfolger
gewählt worden. Dennoch war und ist die Verbundenheit zu Mahler stärker; nicht ohne Grund trägt
das von ihm ins Leben gerufene Jugendorchester den Namen dieses Komponisten. Die Aufnahmen der Mahler-Symphonien
Nr. 3, 7 und 9, die die Deutsche Grammophon zum Ende seiner Berliner Amtszeit herausbrachte, sind Höhepunkte
seiner künstlerischen Laufbahn und Marksteine in der Geschichte des Orchesters. Schon bei seinen ersten
Gastdirigaten 1967 und 1969 stand Mahler auf dem Programm. Während Abbado, der besonders Bruno Walter,
Willem Mengelberg und Dimitri Mitropoulos als Mahler-Interpreten schätzt, zunächst die Symphonien
Nr. 1, 2 und 6 sowie die Kindertotenlieder bevorzugte, dirigierte er 1993 erstmals auch die Vierte, Fünfte
und Neunte mit seinen Berlinern. Der Neunten gehörte fortan seine besondere Liebe. Mit ihr
erwies er sich weltweit als eminenter Kulturbotschafter. Wer, wie der Schreiber dieser Zeilen, am 18. Mai 2000
im Teatro Colon von Buenos Aires die Neunte unter Abbados Leitung erlebt hat, wird dies nie vergessen können.
Im Schlusssatz kam es zu beispielloser Differenzierung der Pianissimo-Regionen, bis sich nach einer langen Pause
die bis zum Bersten gespannte Atmosphäre in Ovationen entlud. Die wichtigste Zeitung Argentiniens, die
den Abend (zufällig an Mahlers Todestag) als Konzert des Jahres angekündigt hatte, steigerte
sich danach in ihrer mehrere Seiten (!) umfassenden Berichterstattung zu dem superlativischen Urteil Konzert
des Jahrhunderts.
Auch in Berlin, wo man sich an denkwürdige Interpretationen dieser Symphonie unter Herbert von Karajan
erinnert, konnte Abbado 1993, 1995 und 1999 mit Mahlers Neunter Musiker und Hörer in Wallung versetzen.
Die von Karajan kultivierte Homogenität des Klangs baute er während seiner Amtszeit trotz eines tief
greifenden Generationenwechsels im Orchester erneut auf und ergänzte sie durch größere Transparenz
und Flexibilität. Die Politur des Klangkörpers ersetzte er durch reichere Ausdrucks- und Sprachfähigkeit,
wie sie der von beiden Seiten gewünschten Ausweitung des Repertoires entsprach.
Dass Claudio Abbado dabei eine klare Strategie verfolgte, war weniger den Proben als vielmehr den Konzerten
anzumerken. In gemeinsamem Hören und Reagieren führten sie zu Glückserlebnissen wie dem Berliner
Festwochenkonzert vom 6. September 1999, das nun als Live-Mitschnitt vorliegt (DG 471 624-2). Nach dem unendlich
langsam verdämmernden Adagio-Schluß vernimmt man förmlich das gebannte Schweigen, das sich erst
nach 40 Sekunden in enorm anwachsenden Beifall löst. Eine so intensive Stille war für den Dirigenten,
wie er einmal gegenüber Gerhard R. Koch gestand, Indiz gelungener Kommunikation und damit der künstlerischen
Aufnahmefähigkeit des Berliner Publikums.
Wie bei allen Auftritten des uneitlen Maestros steht auch bei diesen CD-Editionen des Gelblabels das Werk
im Vordergrund. Bei den Riesensätzen der Neunten bietet die Track-Markierung der Formteile sinnvolle Hörhilfen.
Auch die beiden anderen Mahler-Aufnahmen sind Konzertmitschnitte. Während die Interpretation der neunte
Symphonie langsam reifte, trägt der Berliner Mitschnitt der Siebten vom Mai 2001 (DG 471 623-2) den Charakter
einer spontanen Entdeckung. Abbado hatte dieses Werk an jenem Abend überhaupt zum ersten Mal mit den Philharmonikern
aufgeführt, wobei man die enge Partnerschaft zu spüren meint, die sich nach seiner schwerer Operation
noch intensiviert hatte. Auch an die Dritte näherte er sich erst spät an, ohne sie jemals in Berlin
aufzuführen.
1998 gastierte er mit ihr und den Philharmonikern in München, Wien, in Italien, den USA, Japan, ein Jahr
später dann in London, Paris und Chicago. Höhepunkt der Live-Aufnahme vom 11. Oktober 1999 aus der
Royal Festival Hall London (DG 471 502-2) ist wiederum das großbogige Schluss-Adagio, bei der die Noblesse
der Streicher ebenso überzeugt wie die ohne Übertreibung erzielte Intensität. Wie das englische
Publikum reagierte auch die Presse enthusiastisch; sie staunte, wie Abbados zurückhaltende Zeichengebung
solche Resultate hervorbringt, fragte aber auch besorgt, ob das Orchester nach zehn Jahren unter Simon Rattles
Leitung noch eines so flexiblen Klangs fähig sein werde.
Während der Abgang Karajans verspätet erfolgte, war der seines Nachfolgers Abbado verfrüht.
Nachdem eine große Zeitung seinen Probenstil scharf und unfair kritisiert hatte, erklärte der einzige
demokratisch gewählte Philharmoniker-Chef Anfang 1998, noch vor der Erkrankung, seinen Rücktritt.
Im Unterschied zu Furtwängler (25 Jahre) und Karajan (34) brachte Abbado es damit auf nur zwölf Berliner
Amtsjahre. Diese Jahre, in ihren klingenden Resultaten allerdings ein Glücksfall, sind wie in einem Zeitraffer
auf den zwei CDs jenes Berlin-Album (DG 471 627-2) nachzuerleben, das mit charakteristischen Werkausschnitten
die Vorlieben und Stärken des Maestros zeigt, seinen Einsatz für die Moderne freilich ausspart. Wer
die großen Formprozesse erkunden und die Intensität der Stille nachempfinden will, für die Abbado
ein besonderes Gespür besitzt, sollte eher zu den Mahler-Aufnahmen greifen.