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nmz-archiv
nmz 2002/07-08 | Seite 8
51. Jahrgang | Aug./Sep.
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Tabubrecher
Was waren das noch für goldene Zeiten der Avantgarde, als man nur einmal laut Scheiße!
rufen musste und alles war empört. Schock und Provokation waren ein wesentlicher Aspekt in der Ästhetik
der Avantgardeströmungen des 20. Jahrhunderts, von Dada über Futurismus und Surrealismus bis zu den
Neo-Bewegungen der Nachkriegszeit. Die Grenzen der guten Kunst waren wie die der guten Sitten noch ziemlich
eng gezogen, und somit brauchte es wenig, sie zu überschreiten. Der Skandal resultierte daraus, dass die
Verletzung des gesellschaftlich approbierten Kulturbegriffs als symbolische Verletzung sozialer, sittlicher
oder politischer Tabus empfunden wurde.
Heute gilt bekanntlich alles als Kultur, auch die Talkshow und der Blumentopf im Einkaufsviertel. Entsprechend
schwierig ist die Kunst der Provokation geworden, und selbst den Fußballrowdies, die mit den Blumentöpfen
ganz unkünstlerisch um sich schmeißen, gelingt die Provokation nicht einmal dann, wenn das Fernsehen
sie aus Quotengründen öffentlich macht; ihre Aktion wird als Reality-Show ästhetisiert. Die traditionellen
Kulturtempel haben sich dem Trend angepasst. Der Protagonist in Unterhosen, oder auch ohne, ist auf den deutschen
Theaterbühnen Standard. Auch nackte Natur ist Kultur, und Tabubruch scheint keinen mehr zu interessieren.
Außerdem sind die abendländischen Aufpasser weggestorben. Leute wie Konrad Adenauer, der als Kölner
Oberbürgermeister 1926 noch aus moralischer Entrüstung gegen die Aufführung von Bartóks
Ballett Der wunderbare Mandarin vorging, oder die linke Variante, ein Theodor W. Adorno,
der eine von ihm Jazz genannte Tanzmusik mit dem theoretischen Bannfluch belegte (unter anderem
wegen ihres achttaktigen Formschemas und falscher sexueller Konnotationen), sind heute nicht einmal mehr in
Bayern denkbar.
Im gleichen Maße, wie die Kunst sich bedenkenlos der Realität öffnete und damit ihren symbolischen
Status abschwächte, verlor sie die Kraft zur Provokation. So sehr sich etwa bildende Künstler heute
noch um die Erregung öffentlichen Ärgernisses bemühen, kunstvoll entzweigesägte Kühe
in Formalin ausstellen oder sich Schweineblut über den Kopf schütten, die Aufmerksamkeit hält
sich in Grenzen. Bestenfalls wirken solche Aktionen umsatzfördernd. Das ist ja auch schon was, wenn auch
nicht gerade ein Tabubruch.
Für Tabubrüche, das hat sich in jüngster Zeit gezeigt, sind heute andere Leute zuständig,
und die schießen mit ganz anderem Kaliber: Mediengockel, die sich gegenseitig mit dem Dreck des Antisemitismus
bewerfen, oder ein Zeitungsherausgeber, der durch Vorwürfe, die in die gleiche Richtung zielen, einen Autor
an den Pranger stellt, noch bevor dessen Buch überhaupt erschienen ist und sich die Öffentlichkeit
ein Bild davon machen kann. Um, wie es so schön heißt, medienwirksame Akzente zu setzen, wird heute
nicht mehr mit einem Liter Schweineblut hantiert, sondern mit dem Blut von Millionen Menschen, das dem anderen
symbolisch ins Gesicht geschmiert wird.
Weder die realen Opfer noch die Erinnerung an sie spielen in dieser Auseinandersetzung eine Rolle. Sie werden
als abstraktes historisches Faktum instrumentalisiert und dem Gegner als Knüppel über den Schädel
gehauen. Was damit in die Feuilletons Einzug hält, ist die hyperbolische Gestik des Wrestling, jener Art
von Schaukampf, in dem dem Gegner die totale Vernichtung angedroht wird und in deren Mischung von brutaler Realität
und Spiel das Fernsehen am meisten bei sich selbst ist. Doch auch diese Hass- und Brüllexzesse werden letztlich
durch den ästhetischen Schein auf die Ebene des ironischen Zirkusspektakels gehoben.
Bei so viel medialem Erfolg unserer Showtalente drohen die realen Tabubrüche aus dem Blickfeld zu geraten,
zumal sie unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Forschung und akademischer Meinungsäußerung geschehen.
Dazu gehört etwa das Herumbasteln an den menschlichen Genen. Die gleiche Öffentlichkeit, die sich
nun so lautstark über politische Tabubrüche erregt, scheint sich an die Frankenstein-Vision von künstlichen
Lebewesen oder die Möglichkeit einer Koppelung von tierischen und menschlichen Genen bereits gewöhnt
zu haben. Eine Debatte hat ja stattgefunden, und damit ist offenbar auch der Newswert des Themas zumindest vorerst
erschöpft.
Und wo schon beliebig an entstehendem Leben herumgefingert werden kann, warum soll dann noch die gewaltsame
Beendigung von Leben tabuisiert werden, wenn sie von Staats wegen opportun erscheint? Die FAZ vom
14. Juni berichtet von einem ernsthaften Vorschlag des amerikanischen Juristen Nathan Lewin, nicht nur Verbrecher
mit dem Tod zu bestrafen, sondern auch gleich seine Angehörigen hinzurichten.
Das diene der Abschreckung und könne durchaus legitim sein. Die Forderung missachtet die Grundlagen jeder
zivilisierten Rechtsprechung. Dass sie auf die Familien palästinensischer Selbstmordattentäter zielt
und sich dabei mit irgendwelchen alttestamentarischen Rachepraktiken zu legitimieren versucht, macht die Sache
keineswegs besser.
Nun ist dieser Herr Lewin nicht irgendein Medienfritze, der auf den nächsten Nahostkrieg wartet, sondern
einer der einflussreichsten Anwälte der USA, Dozent an zwei Rechtsuniversitäten und obendrein Vorsitzender
der International Association of Jewish Lawyers und Jurists. Tabus sind dazu da, gebrochen zu werden,
wird sich der Vorkämpfer einer neuen Gerechtigkeit gedacht haben, und das Pro und Kontra, das sein Vorschlag
in Amerika entfacht hat, bestätigt ihm vermutlich, dass daran etwas richtig sein muss. Vielleicht taucht
der Tabuzertrümmerer ja demnächst in einer passenden Talkshow unseres Fernsehens auf. Das anschließende
Wrestling wäre sicherlich einschaltquotenmäßig ein Hit.
Da denkt man mit Nostalgie an die Pionierzeiten der Avantgarde zurück. Wie leicht war es doch damals
noch, einen Skandal zu entfachen. Man musste nur einmal laut Scheiße! rufen.