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nmz-archiv
nmz 2002/07-08 | Seite IV
51. Jahrgang | Aug./Sep.
Beilage:
Bücher für den Sommer
Ein tausendstel Zoll für die Ewigkeit
Ashley Kahns Besichtigung des Schallplatten-Mythos Kind of Blue auf Deutsch erschienen
Ashley
Kahn: Kind of Blue Die Entstehung eines Meisterwerks, Rogner & Bernhard 2002, 233 Seiten, ISBN
3-8077-0176-1, € 19, (über Zweitausendeins zu beziehen)
Eigentlich ein Musikbuch wie viele andere. Mit allgemeinen Informationen zum Werdegang eines Komponisten,
den genauen Umständen der Entstehungsgeschichte eines Meisterwerks, dessen genauer Beschreibung und Einordnung
in den historischen Kontext, nebst Ausblicken auf seine Erfolgs- und Wirkungsgeschichte. Und mit einem kleinen
Unterschied: Das Meisterwerk ist keine Sinfonie, Sonate oder Oper, es hat nicht einmal einen echten Komponisten.
Es ist nur eine Jazzplatte. Wenn auch eine sehr, sehr gute für viele eine der Besten: Kind
of Blue von Miles Davis.
Ein Musikbuch wie viele andere also? Kaum, denn die Mittel, mit denen das erwähnte Buchgerüst im
Fall einer klassischen Komposition aufzufüllen wäre, versagen vor einer Gattung, deren Platz in der
Musikgeschichte noch gar nicht bestimmt ist. Was ist eine Jazzplatte? Eine Sammlung von Interpretationen bestimmter
Stücke, von Kompositionen also, deren Schöpfer man nach dem Schema Leben und Werk in Universitätsbibliotheken
ablegen kann? Eine Aneinanderreihung von mehr oder weniger guten Improvisationen? Eine kollektive Komposition,
die der Kreativität einer bestimmten Gruppe von Musikern zu einem bestimmten Augenblick entsprungen ist?
Oder das Werk eines Bandleaders, der weiß, wen er wann was spielen lassen muss, um ein außergewöhnliches
Ergebnis zu erhalten?
Ashley Kahn hat sich in seiner Besichtigung des längst zum Mythos gereiften Albums von 1959 für
einen Blickwinkel entschieden, der zum letztgenannten Definitionsversuch neigt. Wie wenige andere verstand sich
Davis nicht zum Monologisieren neigend als Kopf, Anreger und Lenker einer Gruppe von Musikern,
deren Potenzial er oft, wenn nicht als Erster erkannte, so doch im Kontext seines Bandkonzepts erst zur vollen
Entfaltung brachte. Die Besetzungen der Jahre 1955 bis 61, unter anderem mit den bei Kind of Blue
beteiligten Saxophonisten John Coltrane und Cannonball Adderley sind ein faszinierendes Beispiel
dafür. Folgerichtig macht Kahn es sich in den ersten beiden Kapiteln zur Aufgabe nachzuvollziehen, wie
der Trompeter dieses Gespür für die richtige Zusammensetzung einer Band entwickelte und wie er sich
die Autorität verschaffte, eine solche Aufnahme in die gewünschten Bahnen zu lenken. Auch für
die übrigen Musiker skizziert Kahn die Voraussetzungen, die sie ihren Platz in der Konstellation vom 2.
März und 22. April 1959 einnehmen ließen. Stilistische Spurensuchen nach den Ursprüngen
des für Kind of Blue essenziellen modalen Prinzips erhöhen die von
Kahn sehr planvoll aufgebaute Spannung hin auf die Kapitel drei und vier, das Herzstück des Buches.
Die Rekonstruktion der beiden Sessions im Columbia Studio in New Yorks 30ster Straße basiert auf dem
Bandmaterial, das Kahn mit fanatischer Liebe zum Detail auswertete, wobei er auch technischen Details eine fast
schon poetische Qualität abgewinnt: Das Scotch-Tonband war ein verhältnismäßig neues
Fabrikat aus festem, belastbarem Azetat und nur ein tausendstel Zoll dick. Das ergab 45 Minuten ununterbrochene
Aufnahmezeit, während das Band mit einer Geschwindigkeit von 15 Zoll pro Sekunde über die Tonköpfe
lief. Für die erste Aufnahmesitzung wurde nicht mehr als eine Spule gebraucht. Dies scheint die Legende
zu bestätigen, der zufolge das Quintett die von Miles Davis frisch mitgebrachten Stücke vom Blatt
weg und auf Anhieb für die Ewigkeit einspielte. Bill Evans Linernotes (deren Handschrift ist auf
dem Vorsatz des wunderschön präsentierten und reich bebilderten Buches faksimiliert) hatten diese
Legende genährt, bis ein zusätzlicher kompletter Take der Flamenco Sketches veröffentlicht
wurde. Dank Ashley Kahn wissen wir nun von einigen Anläufen, die zum Beispiel der junge Bassist Paul Chambers
brauchte, um die zweite, endgültige Version eben dieses Stückes zustande zu bringen. Oder von einer
Neuaufnahme des Schlusschorus von Freddie Freeloader, die dann aber nicht benutzt wurde.
Das Gefühl, dieser Sternstunde improvisierter Musik unmittelbar beizuwohnen das ist zweifellos
Kahns Ziel und er erreicht es durch präzise Beo-bachtung ebenso wie durch suggestive Beschreibungen der
Soli. Musikalische Erkenntnisse vermittelt er dabei eher selten, ein Rückbeziehen von Detailbeobachtungen
auf das klingende Ganze vermisst man mitunter. Reizt Bill Evans mit seinen fast überirdisch klaren ersten
Solotönen in Flamenco Sketches nicht genau das Timbre aus, das nach Kahns Recherche Dave Brubecks
exzessiver Abnutzung des Studioflügels geschuldet war?
Dennoch eine reiche Ernte, die Kahn mit seiner Studie einfährt, einer Liebeserklärung an dieses Album
und den Jazz allgemein. Nicht zuletzt auch dank der aufschlussreichen Kapitel zur Vermarktung und Nachwirkung
des Albums. Ein Musikbuch wie kaum ein anderes.