[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2002/07-08 | Seite I
51. Jahrgang | Aug./Sep.
Beilage:
Bücher für den Sommer
Straighter Rock und festliche Trötenkonzerte
Volker Kriegels neuester literarischer Ausflug: Erwin mit der Tröte
Künstlerische Doppelbegabungen sind gar nicht so selten. Gershwin oder Schönberg, viele waren auch
Maler, und um die Essays von Alfred Brendel oder Glenn Gould genießen zu können, muss man deren Klavier-Aufnahmen
noch nicht einmal mögen. Auch Volker Kriegel ist so ein Glücksfall, noch dazu einer, der für
Kinder wie für Erwachsene gleichermaßen schreiben kann. Von jeher fährt Kriegel eine Doppelstrategie
als Jazzgitarrist, Zeichner und Autor, und in seinen glücklichsten Momenten führt er seine vielen
Begabungen zusammen. Seine neueste Schöpfung ist der musikalische Nasenbär Erwin mit der Tröte.
Erwin spielt mit seiner Band alles. Trötenkonzerte von Torelli, Bebop-Standards über Piazzolla-Bearbeitung
bis zu straightem Rock die regelmäßigen Samstagskonzerte der Dschungel-Kings auf der kleinen
Insel vor Sansibar sind eine stete Überraschung für das Publikum und ein Vergnügen für die
eingeschworene Combo. Alex, der Alligator, zuständig für Akkordeon und abenteuerliche Ausreden, mit
denen er sein regelmäßiges Zuspätkommen begründet; der Orang-Utan Gismo am Schlagzeug,
ein Drummer alter Schule mit unerschütterlichem Timing; Horsti, die Hyäne am Marimbaphon und sein
Freund Heinzi, ein ebenso schüchterner wie begabter Arrangeur lauter liebevolle, lebensechte Charakterporträts,
bei denen manche Züge ihre Vorbilder im United Jazz & Rock Ensemble haben dürften,
dem Volker Kriegel angehört. Erwin, der Frontman der Band, bedient mit seiner Nase virtuos
alle Stilarten, und so ist es kein Wunder, dass er eines Tages von dem Tierstimmenforscher Prof. Higgins entdeckt
wird. Higgins überredet ihn, mit nach Europa zu kommen. Er will ihn zu einem international gefeierten Star
aufbauen, schon beim Debüt in der Mailänder Scala soll ihm das Publikum zu Füßen liegen.
Der ahnungslose Erwin willigt ein, und das Unglück nimmt seinen Lauf. Ausgenützt von dem gewieften
Impresario, hetzt Erwin von Stadt zu Stadt und Land zu Land, bald frustriert und einsam und voller Liebeskummer
wegen der Nasenbärin Rosa, die er zurücklassen musste. Doch Erwin weiß sich zu helfen
Kriegel hat eine Hand für Märchen: 1982 ließ er seinen RocknRoll-König
durch die Lande ziehen. Wegen seines schweren rhythmischen Hängers, der regelmäßig die Hofkapelle
durcheinander bringt, platzt das große Sommerkonzert, und der König begibt sich schließlich
vor Scham inkognito on the road. Schon hier verriet jedes Detail den bewanderten Tourprofi und den
musikalischen Liebhaber, dem unter den Fixsternen von Charlie Parker und den Beatles ein ganzes Firmament leuchtet,
indem auch John Mayall und Eric Burdon, die Stones oder Paul Simon Platz haben, und schon hier machte sich der
sanfte, hintersinnige Humor aus dem Umfeld der Frankfurter Schule von Robert Gernhardt, Eckehard Henscheid und
F. K. Waechter bemerkbar. Auch Erwin mit der Tröte ist musikalisch auf der Höhe der Zeit.
Das Synonym für die Generation von Musikern, die wie Erwin gleichermaßen anerkannt Jazz und Klassik
spielt, ist Wynton Marsalis ironischerweise lässt Kriegel Marsalis zusammen mit Keith Jarrett, der
ja auch in beiden Lagern reüssiert, sowie Ludwig Güttler und Gidon Kremer in der Scala als Vorprogramm
auftreten. Kriegel weiß, was er tut. Die Geschichte der Annäherungsversuche zwischen Jazz und Klassik
von Jacques Loussier bis Friedrich Gulda, den Schulstreit zwischen dem Jazzhistoriker Marsalis und Keith Jarrett
hat er genauso scharfsinnig verfolgt und in Essays erhellend kommentiert wie die unsinnigen Lagerkriege zwischen
Jazz und Rock in den 70ern und 80ern. Wenn Simon Rattle das Debüt dirigiert und Erwin später mit dem
English Chamber Orchestra eine CD-Box Festliche Trötenkonzerte einspielt, hat das nichts mit
Hintergrundkolorit und Beiwerk zu tun. Erwin erlebt den auszehrenden Alltag des reisenden Virtuosen zwischen
austauschbaren Städten und Hotelzimmer, zerrieben zwischen dem Krakeel der Feuilletons und dem gierigen
Manager aber erlebt auch spontane Jamsessions und neue Freundschaften. Auch auf dem Dschungelhochsitz
gibt es das harte Brot des Berufsmusikers: Wer Tröte spielt, muss jeden Tag üben. Ein perfekter
Ansatz und eine makellose Intonation kommen schließlich nicht von allein. Genau wie ein Leistungssportler
muss auch ein Tröter der Extraklasse sein tägliches Trainingsprogramm hinter sich bringen.
Und dann hören wir Erwin fluchen, wenn er sich an den schwierigen Stellen Torellis verhakt. Shit!
und: Weils so schön war. Erkennen muss man die vielen Anspielungen nicht. Der feine,
liebenswürdige Witz der Zeichnungen, die skurrilen Figuren und die schwungvoll erzählte Geschichte
machen das schön ausgestattete Buch für Kinder und Erwachsene auch so zu einem Vergnügen.
Johannes Hirschler
Volker
Kriegel: Erwin mit der Tröte, Eichborn Verlag. 64 Seiten, gebunden, ISBN 3-8218-3740-3, € 14,95