Mehrere Jahre musste man warten, bis eine in sich stimmige und konsequente Aufführung von Vinko Globokars
einzigem musikadramatischen Versuch Larmonia drammatica vorlag. Das Stadttheater Bielefeld
hat es nun geschafft. Mit großem Erfolg.
M an blickt nicht durch und dennoch ist alles klar. Das Libretto des italienischen Schriftstellers, des allegorischen
Realisten Edoardo Sanguinetti zu Vinko Globokars Musikdrama Larmonia drammatica liest
sich wie ein Reißbrett der Personenführung. Es gibt sieben Protagonisten, drei Frauen, drei Männer
(jeweils auf drei Stimmlagen verteilt), ein Mädchen. Und das ist Die Welt resümieren
sie am Ende des ersten Teils und proben zugleich individuell den Widerstand: Denn widerstehen, meint
der Alt, ist alles. Ihr Auftreten gleicht einem Kleine-Negerlein-Spiel rückwärts. Erst
ein Solo, dann einige Duette, Terzette und so weiter bis zum Sextett. Das den ersten Teil in dieser Konsequenz
abschließende Septett baut sich, den Gang replizierend, noch einmal so auf: dem Solo des Tenors treten
nach und nach die anderen Stimmen hinzu bis zur Totale. Dieser erste Teil dauert eineinhalb Stunden, es folgt
ein halbstündiger zweiter, der nichts anderes als die Vernichtung der sieben Protagonisten durch Macht
und Masse schildert.
Sängerin Richardson im Bielefelder Bühnenbild: geniale Live-Bemalung
der Szene durch Overhead-Projektoren. Foto: Theater Bielefeld/Matthias Stutte
Was wird eigentlich erzählt? Schwer ist es, Genaueres zu entschlüsseln. Jedes der sieben Individuen
hat ein privates Schicksal. Und wenn sie miteinander kommunizieren, dann sprechen sie nicht mit- sondern gegeneinander.
Jeder berichtet über seine Situation, seine Erlebnisse, seine Sicht der Dinge. Keiner hört dem anderen
zu, dennoch entsteht ein magisches Band zwischen ihnen. Globokar hatte, nach der Lektüre der Ästhetik
des Widerstands ein Musiktheaterstück über den Begriff Widerstand schreiben wollen.
Und Sanguinetti war in dieser Form auf den Wunsch eingegangen. Alle sieben Individuen haben, ganz unterschiedlich,
den Stachel der Auflehnung in sich. Darum sind sie letztlich für die Gesellschaft nicht verträglich.
Und so begegnen sich ihre unabhängigen Sätze in verwandten Formulierungen, in gleicher Wortwahl. Der
Text müsste mehrfach gelesen werden: einmal die verstreuten Erzählstränge jeder Person rekonstruierend,
dann in Hinsicht auf das gleichsam unterirdische verbale Netzwerk zwischen ihnen das meint das widersprüchliche
Begriffspaar Larmonia drammatica.
Solches kann und will das Musiktheaterwerk natürlich nicht leisten und Globokar unterminierte das begreifende
Verfolgen nochmals, indem er den Text in mehrere Sprachen übersetzte und damit einen weiteren Horizont
öffnete. Aber seine Musik saugte sich fast süchtig fest an der Idee der sich fast gesetzmäßig
entwickelnden Konstellationen, am Prozess der Verdichtung im ersten Teil, an dem der gewaltsamen Auflösung
oder Vernichtung im zweiten. So ist jede Stimme kompositorisch anders behandelt (reihentechnisch, als Sprechgesang,
modal, rhythmisch starr, popartig et cetera), jeder ist eine differenziert charakterisierte Orchestergruppe
(etwa Blech, Streicher, Schlagwerk, Pop-Band) zugeordnet. Der seriell geführte Tenor bildete dabei einen
Extrempunkt, er korrespondiert mit einem Saxophon als Alter Ego auf der Bühne. Das alles klingt nach viel
trockener Theorie. Und nach politischer, nach subversiver Motivation! Vielleicht waren das auch Gründe,
warum das schon zwischen 1986 und 89 komponierte Werk an der Opéra Comique in Paris (von dort kam der
Auftrag) letztlich nicht uraufgeführt wurde. Es gab dann eine konzertante Version in Berlin und eine für
Globokar nicht befriedigende szenische Version in Ljubljana (der Regisseur hatte wegen Gagenstreitigkeiten die
Arbeit abgebrochen und Globokar musste damals alles alleine regeln). So kam es jetzt am Stadttheater Bielefeld
zur eigentlichen Uraufführung (Globokar).
Und die war ein Glücksfall. Bielefeld hat ein junges, mutiges und kreatives Theaterteam. Leider weiß
die Bevölkerung Bielefelds wohl noch nicht so recht, wie sie mit den neuen Programmstrukturen umgehen soll.
Vielleicht einfach mal hinhören! Denn Globokars Larmonia drammatica bot eine Fülle
von geradezu süffiger Musik. Die genaue Strukturierung durch den Text wirkte keineswegs als Hemmschuh,
sondern im Gegenteil als Motivationsschub, die ständig wechselnden klanglichen und stilistischen
Kombinationen kreativ in Gang zu setzen. Es entstand ein buntes Spektrum direkt zupackender musikalischer Ideen
und Globokar verlor dabei das Moment des Widerständigen als Leitthema des Musikdramas nicht aus den Augen.
Hier, im Klingen, fand sich also wieder, was semantisch in der Oper nicht über die Bühne kommt:
Individualitäten des Widerstehens, Ignoranz der Anderen, der Masse, Vernichtungstrieb. Das Private wird
ausgelöscht, um das dumpfe Treiben am Laufen zu halten.
Erstaunlich die Ensemble-Leistung. Vielleicht hat sich Regisseurin Arila Siegert etwas zu sehr in die Idee des
Kriechens und Krabbelns auf schräger Bühnenebene oder auf setzkastenähnlichem Aufbau verliebt.
Aber die Idee, den Maler Helge Leiberg mit einer Live-Bemalung der Szene (über einfache Overhead-Projektoren)
zu betrauen, erzeugte so viel spannende Bühnenbild-Energie, dass die Blicke immer auf die genialische Drastik
dieser Bilder oder Einfärbungen gelenkt wurde. Globokars Musiktheateransatz, unterschiedliche Individuen
fast unabhängig miteinander agieren zu lassen (wie eben die sieben Protagonisten auch), war hier ebenso
einfach wie schlagend spontan verwirklicht. Ich will, sagte er, keine Musik schreiben, die
nicht von außen, von gesellschaftlicher Beobachtung angestoßen ist. Die Idee des Widerstehens
(oder des privaten Scheiterns im Widerstehen) durchtränkte so die Aufführung und riss auch die Sänger
und Musiker unter der Leitung von Dirk Kaftan zu beachtlicher Leistung mit.