Die Epoche von 1870 bis 1918 ist Programm beim Lübecker Kammermusikfest und für die Mitwirkenden
verbindlich. Wer dort, jeweils zum Himmelfahrtswochenende, auftritt, hat sich vorsorglich im Raritätenkabinett
umgeschaut. Denn Standardrepertoire gehört nicht zum Profil des kleinen exquisiten Festivals.
Vielmehr findet Evelinde Trenkner, die künstlerische Direktorin, in Geheimkammern der Musikgeschichte
jedes Jahr neue Kleinodien. So die auf anderen Konzertbühnen gar nicht beachtete Sonata facile
von W.A. Mozart mit frei hinzu komponiertem 2. Klavier von Edvard Grieg. Mit ihrer Duopartnerin
Sontraud Speidel hat Evelinde Trenkner diese aparte Dekoration des norwegischen Romantikers als frisches Bouquet
angeboten, und das erstaunte Publikum war begeistert. Zumal ein zweiter Mozart-Clou, nämlich Tilo Medeks
satirische Battaglia à la turca für zwei Klaviere sogleich folgte. Solche selten gespielten
Arrangements leiteten auch die beiden verbleibenden Konzertabende ein, und zwar Der Zauberlehrling
von Paul Dukas und die Suite Nr. 1 von Anton Arensky. Wobei gerade der Drang nach Vorwärts
in Arenskys Musik die Dämmerung einer neuen Zeit ahnen ließ, jedenfalls flogen bei der Darbietung
der Damen in Rot die Funken nur so aus den Tasten.
Heftiger noch flogen die Funken, als Alexander Markovich seinen Auftritt hatte. Er ist ein Erzmusikant, ein
Piano-Catcher im doppelten Wortsinn: was seine stattliche Statur betrifft und wie er spielt. Mit rundem Leib
und bebender Seele fing er sozusagen die Töne ein, in jedem Tempo. Überhaupt hatte Alexander Markovich
den Namenspatron fürs Lübecker Festival wieder ins Rampenlicht der internationalen Klassikszene geholt,
als er im Jahr 2000 mit Xaver Scharwenkas 4. Klavierkonzert (ohne kosmische Rätsel) und dem
Detroit Symphony Orchestra (Leitung: Neeme Järvi) in den USA Triumphe feiern konnte. Die Variationen
über ein eigenes Thema von Xaver Scharwenka wurden in Lübeck deshalb ein Bekenntnis zu ungehemmter
pianistischer Virtuosität. Allerdings fügte er sich im Duo mit dem Bratschisten Mikhail Zemtsov sensitiv
in die Sonate für Viola und Klavier von Philipp Scharwenka ein, und die Carmen-Fantasie
von Franz Waxman machte er mit seinem Partner zu einem augenzwinkernden Erlebnis. Alexander Markovich war eine
herausragende Persönlichkeit des Festivals.
La Cellissima: Maria Kliegel
Markant, doch ein ganz anderer Typus ist Maria Kliegel: La Cellissima. Ihre noble Phrasierungskunst
vertraute sich geschmeidig dem lyrischen Gestus der Sonate für Violoncello und Klavier von
Edvard Grieg an. So viel Selbstvertrauen hatte ihre Partnerin Beatrice Berthold nicht immer, weshalb die Dynamik
in der Ungarischen Rhapsodie von David Popper, einem Bravourstück fürs Cello, manchmal
schwankte. Maria Kliegels umjubeltes Debüt in Lübeck wurde mit der virtuosen Figaro Paraphrase
von Mario Castelnuovo-Tedesco und etlichen Zugaben abgerundet.
Erfolgreich war auch das Debüt des Minguet Quartetts. Künstlerisch ausgereift waren die 6
Bagatellen für Streichquartett von Anton Webern, Mikroorganismen in vibrierenden Reizzuständen,
denen das Publikum in atemloser Stille zuhörte. Und das Streichquartett F-Dur von Maurice Ravel
löste die Spannung in magischer Atmosphäre des Mittelmeers. Der Bariton Thomas Mohr gestaltete fünf
der 7 Lieder aus letzter Zeit von Gustav Mahler und vor allem die 5 Lieder nach Texten von
Eduard Mörike von Hugo Wolf mit Sinn für die satirischen Unterströmungen. Mit präziser
Intonation und Artikulation, sicher von Clemens Wiencke am Klavier gestützt, hatte Thomas Mohr die Sympathien
des Publikums auf seiner Seite. Ein hohes Maß an persönlicher Glaubwürdigkeit war bei ihm wie
bei den anderen genannten Interpreten der Garant für eine gelungene Besichtigung eines Zeitalters voller
Überraschungen, über die Hermann Boie in eigenwilligen Moderationen manche Vorder- und Hintergründe
mitzuteilen hatte. So hat das Internationale Kammermusikfest in Lübeck im Jahr 2002 seine Attraktivität
durch ein stimmiges Konzept noch steigern können.