The Players von Juraj Benes in Köln und Macbeth von Salvatore Sciarrino in Schwetzingen
Shakespeares großes Drama sei wie ein Schwamm, meinte der alte Jan Kott, und Hamlet insbesondere
eigenartig eben wegen seiner Porosität, seiner offenen Stellen. Das Ganze ist das Dilemma.
Auf der Opernbühne erhielt bislang keines der Werke dauerhaftes Bleiberecht, die das Königsdrama in
allen oder möglichst vielen seiner Handlungsstränge auf die Bühne bringen wollten. An Anläufen
fehlte es gleichwohl seit dem frühen 18. Jahrhundert nicht, diesen Historienstoff, Kriminalroman, philosophischen
Exkurs in Musik zu bringen. In Italien versuchten sich an ihm neben Scarlatti, Gasparini, Andreozzi, Mercadante
wenigstens ein halbes Dutzend weiterer Komponisten, auch Franco Faccio, dem Verdis Librettist Arrigo Boito die
Vorlage lieferte. Giuseppe Verdi selbst verwarf die Idee, einen Hamlet zu komponieren; er glaubte
nicht daran, die Partie des räsonierenden Titelhelden hinreichend scharf konturieren zu können. Von
1950 an hatte Boris Blacher mit einem Hamlet-Ballett eine Zeit lang ansehnliche Erfolge. Einzig Wolfgang Rihms
Hamlet-Maschine verspricht bislang, den magischen Bann wirklich zu durchbrechen; aber das ist eine
andere Geschichte gestützt auf Heiner Müller und die Folgeerscheinung der Porosität
und der blutig offenen Stellen.
Juraj Benes, wohl der derzeit interessanteste der slowakischen Komponisten, wagte sich trotz der wenig ermutigenden
Vorgeschichte Anfang der 90er-Jahre, gestützt auf einen Auftrag aus London, an die Ausführung eines
schon lange gehegten Hamlet-Projekts. Das wollte sich durchaus von einigen traditionellen Fesseln
der Literaturoper befreien, bleibt dennoch allzeit auf den großen Text verwiesen. Ähnlich
dem von Berlioz bei dessen Damnation de Faust angewandten Verfahren richtete Benes sich vierzig
nahtlos ineinander übergehende Hamlet-Szenen ein, die der Vorlage zwar nicht chronologisch,
aber im Schema des Handlungsablaufs folgen. Der Auftritt der Schauspieler rückt wie von einer Lupe
vergrößert dabei in den Mittelpunkt: im Blick auf diese zweifelhaften Künstler, die in
politische Intrigen verstrickt werden, schlagen sich sichtlich und hörbar Erfahrungen des Komponisten in
der Endphase des realen Satrapen-Sozialismus nieder.
Das Werk bedient sich einer Polyphonie europäischer Sprachen. Neben dem originalen antiquierten Englisch
stehen deutsche, italienische, französische Passagen und das Kirchenlatein der Schlusschöre. Solch
programmatischen Vielfalt entspricht die des musikalischen Materials, dessen solide Grundlage eine modifikationsfähige
freie Atonalität bildet. Immer wieder wird, das ist der ursprünglichen Auftragslage geschuldet, auf
Klangfiguren und Intonationen Benjamin Brittens angespielt. Doch ganz originär entfaltet sich eine höchst
differenziert gesetzte Gesangs-Lineatur für die acht singenden Protagonisten. Die musikalische Gemengelage
im und über dem auf 16 Spieler reduzierten Orchester ist pfiffig arrangiert und würzig abgeschmeckt.
Sie wird von Johannes Stert mit bemerkenswertem Geschick animiert und differenziert: munter und melancholisch,
filigran und zupackend musikantisch, manchmal zackig und sogar zickig, absichtsvoll durchmischt auch mit Partikeln
italienischer und osteuropäischer Operntradition. Ophelia vornan bedient mit virtuosen Sprüngen und
geschmeidiger Linienführung den Gestus großer Arie die junge Sopranistin Insun Min nutzt sie
weidlich. Dem Hamlet-Darsteller wird eine Partie höchster Ansprüche zugemutet: Miljenko Turk schlägt
sich bravourös.
Juraj Benes nahm es, was derzeit nicht im Trend mittel- und westeuropäischer Klassiker-Bewältigung
liegt, auf seine Weise mit Shakespeare genau, wollte nicht in irgendeiner platten Weise aktualisieren.
Freilich zielten seine musikalisierten Text-Fragmente durchaus auch auf etwas Heutiges: auf Probleme des Theatermachens.
Das Mosaik seiner Hamlet-Szenen bildet die Basis für ein Theater-Spiel: Einzeln oder in Gruppen
treten die Solisten aus dem Kollektiv, das immer wieder zum chorischen Gesang zusammenfindet. Sie stellen
mitunter in verschiedenen Rollen etwas dar und stellen sich dar. Der Regisseur der Kölner Uraufführung,
Christian Schuller, pointierte den Werkstatt-Charakter der Komposition. Er ließ die Zuschauer in einen
Theaterraum kommen, in dem ein Casting bereits in vollem Gang ist: Schauspieler werden an der Bühnenrampe
für eine Hamlet-Aufführung getestet und Volker Niederfahrenhorst moderiert auch den nahtlosen Übergang
zu einer Klavierprobe, welche die (vielleicht nicht allen Operngängern geläufigen) Handlungskonturen
der Mordsgeschichte von König Claudius zu Helsingör in Erinnerung ruft. Indem die Protagonisten dann
mit Probe-Kostümen ausgestattet, schließlich in die richtigen gepellt werden, gleitet
die Szenenfolge hinüber in die eigentliche Opernaufführung, in der jener herrische Spielleiter
zunehmend überflüssig wird (und tatsächlich bis zur Schluss-Szene verschwindet). Kunst will,
indem sie durchaus Gesellschaftliches und politische Intrige reflektiert, sich hier noch einmal ganz in die
Kunstsphäre hinausspielen.
Der Werkstattcharakter der Players, die ganze Intention dieses Projekts erscheint vor osteuropäischem
Erfahrungs-Hintergrund ungleich plau-sibler als angesichts saturierter westlicher Erwartungshaltung. Nicht zuletzt
aber ging es um europäischen Kultur-Dialog mit dieser nach Köln gezogenen Produktion: dass auch im
Westen wahrgenommen werden kann, wie anders weiter östlich heute über und in Theater-Kunst gedacht
wird. Und wenn Juraj Benes nicht mehr bewirkt hätte, als dass Hamlet als zentraler Text des
europäischen Bildungskanons wieder, ernsthaft gelesen, auf dem Theater fokussiert wird, hätte er bereits
eine Menge geleistet in dekonstruktionslüsternen Zeiten. Dass dieser Komponist, 1947 im armen Trnava geboren
und dort auch aufgewachsen, und der aus Siebenbürgen stammende Regisseur mit allen ästhetischen Mitteln
so ökonomisch umgingen, sollte man ihnen nicht verübeln: sie sorgten für ein bewegliches, agiles
Theater, in dem der Geist nicht nur mit Stablampen auf die Zuschauer leuchtet.
Krass hingegen trat bei dem wenige Tage später im Schwetzinger Rokoko-Theater vorgestellten Macbeth
von Salvatore Sciarrino eine Diskrepanz zutage zwischen dem Resultat und dem Anspruch, just den sozialen Charakter
dieser von Anfang an eher unsozial gestimmten Kunstform herauszuprozessieren. Giuseppe Verdis von Risorgimento-Sozialität
erfüllter, gleichwohl aus naiv patriotischen Einverständnis-Strömen ausbrechendem Macbeth
setzte Sciarrino seine Episoden-Arbeit entgegen, fixiert auf die dunkelsten Aspekte einiger psychoanalytisch
markierter Individuen des Shakespeare-Stücks. Entsprechend schwarz geriet Achim Freyers Bühne. Kreide-Lineatur
deutete Palasttüren, sich überlagernde Herrschaftsarchitektur an.
Damit waren die Verweise aufs Gesellschaftliche aber bereits erschöpft. Waagerecht aus dem Finsteren kommend,
schwebt Macbeth zum Mord an Duncan herab. Es war, als wäre die Wirklichkeit um 90 Grad gekippt verrückt,
die Gesetze der Schwerkraft aufgehoben. Die Gesetze des musikalischen Fortschritts sucht Sciarrino auszuhebeln:
strukturell schreibt er Musik nach barocken Regeln und Affekten, freilich mit technizistisch neuer Intervall-
und Konsonanz-Behandlung. Der neue Macbeth ein nicht nur leise restauratives Stück mit
allzu heftigem Mundgeruch eines hoffentlich überwundenen 20. Jahrhunderts. Das gesteckte Ziel, soziales
Gewissen zu werden, wurde mit Sciarrinos hochwohlkopfgeborenem Kammermusiktheater meilenweit verfehlt.