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nmz-archiv
nmz 2002/07-08 | Seite 31
51. Jahrgang | Aug./Sep.
Deutscher
Tonkünstler Verband
Jeder spielt so gut er kann, und jetzt ist der Nächste dran
Der Blick über den Zaun: Musikunterricht für behinderte Kinder und Jugendliche
Musikunterricht für behinderte Menschen anzubieten, ist bestimmt keine so neue Idee, dachte ich mir noch
Anfang dieses Jahres, als ich mich auf die Suche nach geeigneten Angeboten machte, an denen ich mich konzeptionell
und organisatorisch orientieren konnte. Schon nach kurzer Zeit musste ich aber feststellen, dass es bundesweit
nicht einmal eine Hand voll etablierter Unterrichtsangebote an städtischen wie privaten Musikschulen gibt,
die sich mit behinderten Kindern und Jugendlichen beschäftigen. Also doch eine neue Idee?
Nein, wohl nicht ganz, wenn man eine Statistik betrachtet, die der Verband Bayerischer Sing- und Musikschulen
1997 veröffentlicht hat. Die Ergebnisse beziehen sich auf 46,3 Prozent aller Musikschulen in Deutschland.
So wurden an 452 Musikschulen 5.528 Behinderte gefördert, das entspricht ganzen 0,64 Prozent der gesamten
Schülerschaft der erfassten Musikschulen (siehe Quellenhinweis am Textende). Leider existieren bis heute
keine neueren Zahlen, die auch zum Beispiel die privaten Musikschulen mit einbeziehen. Aber schon anhand dieser
etwas vagen Zahlen wird deutlich, dass behinderte Kinder und Jugendliche nach wie vor eine verschwindend geringe
Randgruppe an Musikschulen bilden.
Unterricht mit behinderten Kindern und Jugendlichen. Foto: Musiklehrervereinigung
e.V. in Traunreut.
Auf dem Hintergrund unserer heutigen Gesellschaft, die die Leistungsfähigkeit und den Wettbewerb zur obersten
Maxime ausgerufen hat, mögen diese Zahlen nicht verwundern. Unsicherheit und hohe Barrieren gegenüber
der Andersartigkeit von Menschen, die geistig beziehungsweise körperlich behindert sind, kennzeichnen die
wenigen Kontakte. Das gesellschaftliche Leistungsdenken macht leider auch vor den Pforten der Musikschulen nicht
Halt. Die Leistungsfähigkeit des Schülers am Instrument ist meist richtungsweisend, Spaß und
Kreativität müssen sich dem unterordnen. In solch ein Klima mögen behinderte Menschen so gar
nicht hineinpassen.
Die Idee, einen Musikunterricht für behinderte Kinder und Jugendliche anzubieten, steht im Zusammenhang
mit meiner Arbeit als Musiktherapeutin in einer heilpädagogischen Tagesstätte für geistig behinderte
Kinder und Jugendliche und meiner weiteren Unterrichtstätigkeit bei der Musiklehrervereinigung e.V. in
Traunreut. Meine momentane Haupttätigkeit in der Tagesstätte verstehe ich in erster Linie als heilpädagogisch
orientierte Musiktherapie. Meine musikalischen Erfahrungen, die ich mit den behinderten Kindern und Jugendlichen
sammeln konnte, zeigten mir deutlich, dass es auch trotz teilweise schwerster Behinderung möglich ist,
Musik zu erleben und auch zu machen.
Ein Musikunterricht für behinderte Kinder und Jugendliche unterscheidet sich von einer musiktherapeutischen
Arbeit im Ansatz und in der Zielsetzung. Während in der Musiktherapie der Beziehungsprozess zwischen Therapeut
und Patient musikalisch thematisiert und bearbeitet wird, steht im Musikunterricht die Musik als ästhetisches
Mittel im Vordergrund. Wenn ich mit behinderten Kindern und Jugendlichen musiziere, Musik höre oder tanze
zeigen sich höchstwahrscheinlich auch im Unterricht entsprechende therapeutische Wirkungen, die aber nicht
beabsichtigt oder gezielt hervorgerufen werden wie in einer Therapiesituation. Das Ziel des Musikunterrichts
ist, wie bei normalen Schülern auch, die spielerische und individuelle Heranführung an
Musik und ihre musikalischen Betätigungsfelder, die eine offene, kreative und heilpädagogisch orientierte
Musikdidaktik, je nach Fähigkeiten des Einzelnen, verlangt. Darüber hinaus findet natürlich eine
heilpädagogische Förderung von Motorik, Ausdauer, Konzentration, sozialen Kompetenzen, Sprache und
Emotionalität statt. Diese Förderbereiche lassen sich aber auch ohne weiteres auf den Musikunterricht
mit normalen Kindern übertragen, die in diesem Sinne durch Musik gefördert werden können.
So weit ein kurzer Abriss aus dem Konzept, das ich für dieses Projekt zusammengestellt habe. Ehrlich
gesagt war das noch die leichteste Übung in dieser Vorbereitungsphase. Das schwierigere Thema ist
wie überall der finanzielle Teil dieses Vorhabens.
Ein Kostenzuschuss für einmalige Ausgaben wie Instrumentenkauf oder Raumausstattung können über
das Kultusministerium und über den Tonkünstlerverband beantragt werden, wobei der volle Zuschussbetrag
(insgesamt bis zu 30 Prozent der zu erwartenden Kosten) vonseiten des Kultusministeriums nur dann gewährt
werden kann, wenn keine weiteren Kostenanträge bei anderen Trägern gestellt werden! Nach meinem Wissensstand
hält auch die Europäische Union finanzielle Töpfe bereit, die im Bereich Behindertenhilfe und
Gesundheitshilfen aktiv werden. Bis jetzt konnte ich aber noch keine genaueren Informationen über die Antragsstellung
und den Adressaten herausbekommen.
Was die Bezuschussung zu den laufenden Unterrichtsgebühren angeht, sieht die Sache noch etwas schwieriger
aus. Auf Grund der individuellen und zeitintensiven Vorbereitung wie auch der fachspezifischen Durchführung
der Unterrichtsstunden müssen wir die Gebühren für den Musikunterricht für behinderte Kinder
und Jugendliche höher ansetzen als beim normalen Unterricht. Es ist aber meiner Meinung nach
nicht einzusehen, warum ausgerechnet Eltern von behinderten Kindern, die sowieso schon in vielen Bereichen größere
finanzielle Belastungen hinnehmen müssen, beim Musikunterricht mehr bezahlen sollten.
Mein Ziel ist es, dass dieser Mehrbetrag zu den normalen Zuschüssen der Gemeinden vom zuständigen
Sozial- beziehungsweise Jugendamt übernommen wird. Die rechtlichen Grundlagen hierzu bieten das KJHG (§
35 und § 29) und das BSHG (§ 40 Abs. 1 Nr. 2a und Nr. 8).
In der Praxis sieht es aber noch so aus, dass dieser Zuschuss für jedes einzelne Kind beantragt werden
muss und darüber hinaus vom Einkommen der Eltern abhängig gemacht wird. Zum größten Teil
ist dieses Verfahren für die meisten Gemeinden neu und dementsprechend langwierig.
Mir ist dabei vollkommen bewusst, dass es heutzutage immer schwieriger wird, zusätzliche Mittel von den
Gemeinden zu bekommen, aber auf der anderen Seite stehen die behinderten Kinder und Jugendlichen, deren Lebensqualität
durch dieses Angebot sicherlich verbessert werden kann.
Es wäre hilfreich, wenn es Mitstreiter in Deutschland gäbe, die ähnliche Projekte vorbereiten
oder schon mit behinderten Kindern und Jugendlichen arbeiten. Ein Austausch über inhaltliche und organisatorische
Fragen könnte die Einzelaktionen stärken und die Auseinandersetzung um finanzielle Hilfen auf eine
breitere Basis stellen. Es ist an der Zeit, die Musikschulen für den Personenkreis der behinderten Menschen
zu öffnen, denn auch behinderte Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf musikalische Bildung nach dem
Motto: Jeder spielt so gut er kann, und jetzt ist der Nächste dran.
Elena Rieser
Kontakt: Der DTKV sammelt Anfragen, Hinweise und Mitteilungen über eigene Aktivitäten und
stellt den Kontakt zu Frau Rieser her. Anfragen bitte an die Geschäftsstelle.
Quellennachweis: Verband Bay. Sing- und Musikschulen e.V. (Hrsg.): Musik mit Behinderten an Musikschulen,
Nürnberg 1999, S. 7