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nmz-archiv
nmz 2002/07-08 | Seite 12 f.
51. Jahrgang | Aug./Sep.
Kulturpolitik
Ein Sängerkrieg, der eigentlich keiner ist
Warum die Sing-Akademie zu Berlin und die Berliner Singakademie nicht zueinander kommen
Mehr als zehn Jahre lang förderte der Berliner Senat zwei Chöre, die einen ähnlichen Namen
tragen: die Sing-Akademie zu Berlin und die Berliner Singakademie. Alle Versuche, die beiden Chöre zueinander
zu bringen, blieben bisher erfolglos. Die nmz machte sich auf die Suche nach den Hintergründen.
Von Bassum nach Berlin ist es ganz schön weit. Und wenn die Leute dort Berliner Tageszeitungen lesen und
dabei verfolgen würden, was sich in der Kulturlandschaft der Bundeshauptstadt so abspielt sie würden
sich wundern und die Köpfe schütteln. Einer zumindest tut es. Mehr noch: immer, wenn er etwas von
den Berliner Chören liest, steigt der Ärger in ihm hoch. Nicht, weil er nicht singen kann. Dabei wäre
jeder, der seinen Namen hört, fest davon überzeugt, dass es ihm angeboren sein müsste, weil es
in der Familie liegt und das schon seit mehr als 200 Jahren! Der Mann heißt Karl Friedrich Zelter und
singt tatsächlich nicht. Aber damit hat er kein Problem. Im Gegenteil, er fühlt sich deshalb nicht
minder aufs Innigste mit dem Chorgesang verbunden und das ist sein Problem. Es war sein Urahn Carl Friedrich
Zelter kein Geringerer als jener, der im Jahr 1800 das Amt des Direktors einer der bedeutendsten Sängervereinigungen
in der deutschen Geschichte übernahm: die 1791 von Carl-Friedrich Fasch als eine Art Kunst-Corps
für die heilige Musik gegründete Sing-Akademie zu Berlin.
Der Nachkomme des passionierten Musikerziehers und Brieffreundes von Goethe wurde denn auch 1932 zum Ehrenmitglied
der Sing-Akademie zu Berlin ernannt. Er war so stolz darauf. Und heute? Ich sehe mit großer Traurigkeit
und einer gewissen Verbitterung den Niedergang des alten Chores von 1791 und sehe, wie er im Nichts zu verschwinden
droht.
Zwei Erben einer Tradition
Dass die Geschichte der Sing-Akademie so untrennbar mit jener der Stadt Berlin verbunden ist, bescherte ihr
Glanzlichter wie Tiefpunkte gleichermaßen, den gravierendsten sicherlich mit dem Bau der Mauer am 13.
August 1961, die nicht nur einen Keil in die Stadt, sondern zugleich auch in den traditionsreichen Chor trieb.
So kam es zu jener merkwürdigen Situation, dass in Berlin seit 1963 gleich zwei Chöre ähnlichen
Namens die Traditionen des großen Vorfahren beerben, denn während die Sing-Akademie im Westteil weiterarbeitete,
wurde im Ostteil der Stadt die Berliner Singakademie gegründet.
Die Gründung dieser Ostberliner Singakademie, urteilt deren heutiger Direktor Achim Zimmermann,
hatte natürlich auch kulturpropagandistische Hintergründe, die typisch waren für diese
Zeit des Kalten Krieges. Man hat damals auf der Ostberliner Seite verschwiegen, dass es die Sing-Akademie im
Westteil der Stadt überhaupt gab. Dieser Chor stand damals ohnehin nicht in der Öffentlichkeit. In
der DDR wurden bestimmte kulturelle Leuchttürme entsprechend gefördert, so auch die Berliner
Singakademie. Sie fungierte auch als Vorbild für die spätere Gründung von Singakademien in den
Bezirksstädten. Der Chor wurde also, im Gegensatz zur Sing-Akademie in Westberlin, massiv unterstützt.
So etwas haben jene Mitglieder der Sing-Akademie zu Berlin nicht vergessen, die zu dieser Zeit bereits im Chor
mitgesungen haben.
Zu denen gehört Michael Rautenberg nicht, er war damals noch ein Kind. Heute ist er Vorstandsmitglied
eben dieser Sing-Akademie und gehört der jüngeren Generation an, der reformwilligen, wie er sie selbst
bezeichnet. Rautenberg beschreibt die Situation des Chores nüchtern und schonungslos: Wir sind heute
98 Mitglieder stark. Davon ist rund die Hälfte musikalisch aktiv: Diese Hälfte besteht zu 90 Prozent
aus Frauen, deren größter Teil nahe dem Rentenalter ist. Für viele von ihnen spiele weniger
die künstlerische Qualität eine Rolle, vielmehr seien persönlichen Gründe für das Dabeisein
im Chor ausschlaggebend. Zumeist sind es jene, die stets in der ersten Reihe stehen und seit Jahrzehnten
immer nur das gleiche Repertoire singen wollen. Sie haben über die Jahre nach und nach die Jungen verdrängt.
Resultat dieser Entwicklung ist, dass die von der Sing-Akademie zu Berlin veranstalteten Konzerte seit Jahren
schon nicht mehr ohne Aushilfen gesungen werden können. Jüngstes Beispiel war eine Aufführung
des Elias von Mendelssohn in der Berliner Philharmonie. Nur ein Bruchteil des großen Chores
bestand aus Mitgliedern der veranstaltenden Sing-Akademie den Löwenanteil stellte die Potsdamer
Singakademie, deren Leiter Horst Müller das Konzert auch dirigierte.
Nicht mehr förderungswürdig
Aber nicht nur der künstlerische und personelle Zustand der Sing-Akademie beunruhigt das Vorstandsmitglied.
Es ist auch ihre materielle und finanzielle Situation: seit dem 30. Juni 2002 erhält die Sing-Akademie
keinerlei Förderung mehr durch den Berliner Senat.
Professor Reinhardt Stollreiter steht dem Berliner Sängerbund vor, dem mittlerweile 220 Chöre angehören.
Die beiden Singakademien gehören nicht dazu. Gleichwohl verfolgt auch Stollreiter die Entwicklung genau,
denn der Sängerbund ist für die Senatskulturverwaltung der Hauptansprechpartner, wenn es um die Berliner
Chorförderung geht. Bislang fand die Subventionierung der Chöre ohne künstlerische Auflagen
statt, erklärt Stollreiter. Seit gut einem Jahr jedoch gibt es eine Chorjury, deren
Aufgabe es ist, alle jene Chöre zu evaluieren, die sich um Subventionen beworben haben. Sie soll feststellen,
ob die Chöre ihre bisherigen Subventionen auch weiterhin erhalten sollen, und ob nicht auch andere Chöre
eine solche direkte Unterstützung verdient hätten. Kriterien wie die künstlerische Qualität,
oder die Auslastung der Konzerte entscheiden darüber, ob und an welche Chöre die Senatssubventionen
weiter gezahlt werden. Im Ergebnis dieser Bewertung ist nun der Sing-Akademie zu Berlin die
institutionelle Förderung gestrichen worden.
Etta Hilsberg, Dirigentin der Camerata Vocale, war jahrelang darum bemüht, dass die Chöre
nach Leistungen bewertet werden. Sie äußerte jüngst in der Berliner Morgenpost die
Meinung, dass eine Vereinigung, deren Niveau katastrophal gesunken sei, keinen Pfennig mehr verdiene. Vor allem
die Sing-Akademie West habe abgewirtschaftet. Dass dieser Traditionschor die institutionelle Förderung
nun verloren habe, sei konsequent, meint Etta Hilsberg: Die wollen einfach nicht wahrhaben, dass sie schlecht
sind. Michael Rautenberg dazu: Die reformwillige Fraktion hat immer davor gewarnt: Wir dürfen
nicht in die Evaluierung geraten. Wir fallen da durch! Zumal die Förderung nur auf den Erhalt
des Chores ausgerichtet war und nicht auf die Förderung der Institution im Ganzen. Und dann kam der Bescheid:
es gibt kein Geld mehr. Also nicht mal, was in den eigenen vier Wänden geprobt wird, erscheint dem Senat
noch förderungswürdig. Und trotzdem ist die Fraktion der Konservativen eher bereit, die Sing-Akademie
notfalls unter der Brücke weitersingen zu lassen, als mit Achim Zimmermann und seinem Chor zu fusionieren,
der übrigens weitergefördert wird..
Kein Kompromiss in Sicht
Heute, beinahe 13 Jahre nach dem Fall jener verhängnisvollen Barriere, sind die beiden Chöre einander
entfernter und fremder denn je. Während die Sing-Akademie weniger mit ihren Konzerten als mit öffentlich
ausgestellten Besitzansprüchen in die Schlagzeilen der Feuilletons gerät, absolviert die Berliner
Singakademie Jahr für Jahr ein von Publikum und Kritik gleichermaßen gelobtes, äußerst
vielseitiges Programm.
Bemühungen in dieser Sache, einseitige gleichwohl, hat es schon sehr früher gegeben. Aus Anlass des
200. Jahrestages der Gründung der Sing-Akademie zu Berlin hatte der damalige Kultursenator Rohloff-Mommin
1991 beide Chöre zu einem Empfang ins Berliner Rote Rathaus eingeladen. Ich habe der Sing-Akademie
zu Berlin in Person ihres damaligen Direktors Hans Hilsdorf, quasi als symbolische Geste, einen Blumenstrauß
überreicht, um damit deutlich zu machen, dass wir dieses Jubiläum nicht für uns beanspruchen,
sondern den Chor mit seiner Tradition und Bedeutung respektieren und uns eher als künstlerische Verbündete
sehen, erzählt Achim Zimmermann. Das ist bis heute nicht begriffen worden.
Gesprächsangebote gab es immer wieder, vonseiten der Berliner Singakademie. Auch der Senat hat mit dem
Vorstand der Sing-Akademie oft über die Vorteile einer Vereinigung diskutiert. Nur drang davon nie
etwas bis zum Chor selbst vor, vermutet Achim Zimmermann. Dort wusste man von unseren Vorschlägen
wahrscheinlich gar nichts. Diese Anregungen waren konkret, zum Beispiel eine Reihe von Konzerten, die
zu zwei Dritteln von Hans Hilsdorf und zu einem Drittel von Achim Zimmermann hätten dirigiert werden können.
Es gab detaillierte Vorstellungen über verschiedene Teilchöre, darunter einen großen Chor, der
etwa drei Konzerte jährlich im Bereich Chorsinfonik hätte veranstalten können und kleinere, flexiblere
Ensembles. Wir haben damals auch deutlich gesagt, hebt Zimmermann hervor, dass eine zusammengeführte
Singakademie Platz für alle Mitglieder hätte, die hier ihre Heimat gefunden haben. Er trifft
damit genau den Nerv, denn Vorurteile dieser Art unter den älteren Mitgliedern der Sing-Akademie begegnen
Vorstandsmitglied Michael Rautenberg bei den Auseinandersetzungen innerhalb seines Chores allenthalben. Dabei
sind seine Vorstellungen und die seiner reformwilligen Kollegen über die Möglichkeiten einer fusionierten
Singakademie denen Achim Zimmermanns sehr ähnlich.
Bestürzend simpel und banal
Nach dem überraschenden Tod Hans Hilsdorfs, der die Sing-Akademie bis zuletzt als einzig wahren Erben
der Zelterschen Tradition verteidigte, schien der Konflikt im November 1999 eine neue Wendung zu nehmen.
Würde die dirigentenlose und zudem überalterte Sing-Akademie nun die Chance ergreifen sich mit den
vielgelobten Kollegen aus dem Osten zusammenzutun und Achim Zimmermann als neuen Chef zu akzeptieren?, fragte
der Tagesspiegel Im Gegenteil: Dass man einen Interims-Dirigenten wählte, den man versprechen
ließ, binnen zwei Jahren den Chor aus seinem derzeitigen Tief auf das künstlerische Niveau des Namensvetters
zu heben, war ein eindeutiges Signal in Richtung Berliner Senat: Die Sing-Akademie zu Berlin beharrt
auch nach der Ära Hilsdorf auf ihrer Eigenständigkeit!
Bei Lichte besehen stellt sich, was immer noch als Sängerkrieg von Berlin kolportiert wird,
als bestürzend simpel und banal dar. Hier ringen nicht zwei künstlerische Antipoden um Traditionen
und zukünftige Wege, hier wird kein Ost-West-Konflikt mehr ausgetragen. Es geht längst nicht mehr
um eine geschichtlich bedingte Unversöhnlichkeit der Berliner Singakademie und der Sing-Akademie
zu Berlin. Was da noch immer an ideologischen Vorbehalten geäußert wird, erweist sich als offenkundiges
Alibi für die eigene Passivität.
Auch Karl Friedrich Zelter weiß das und ist umso ärgerlicher darüber: Die haben nicht
begriffen, dass auch ein Chor sich erneuern muss: neue Mitglieder, neue Programme, neue Visionen. Für die
alten Damen sind die anderen die Kommunisten und bleiben die Kommunisten. Anwürfe auf niedrigstem Niveau
fürchterlich! Michael Rautenberg beschreibt diesen Zustand mit der Furcht vor einer unbedingt
erforderlichen Qualitätssteigerung, der ein eigentümlicher Dünkel und eine gewisse Fremdenangst
beigemengt seien. Dies sei das Haupthindernis für eine Vereinigung. Der trotzig behauptete Verdacht, das
vorrangige Motiv des Ostberliner Chores für eine Vereinigung wäre ohnehin nur die damit verbundene
uneingeschränkte Teilhabe an den königlichen Privilegien und am materiellen wie ideellen
Vermögen der Sing-Akademie zu Berlin ist denn auch bezeichnend für das Niveau der Debatte, die inzwischen
keine mehr ist. Denn mittlerweile ist man in der Berliner Singakademie der immer wieder ausgeschlagenen Angebote
müde und hat beschlossen, sich wieder mehr auf die eigene Arbeit zu konzentrieren.
Aber, und da sind sich alle hier Genannten einig, für eine Zusammenlegung der beiden Chöre gibt es
in der Zukunft keine wirkliche Alternative. Für Achim Zimmermann ist ohnehin klar, dass es nicht ohne Kompromisse
abgehen wird. Sie werden letzten Endes bestimmt von dem, was wir wollen: wir wollen als eine gemeinsame
Singakademie auch weiterhin künstlerisch in der Stadt bestehen.
Bei der Frage freilich, wie man dem ein Stück näher kommen könnte, herrscht allgemeine Ratlosigkeit.
Alle Argumente sind vorgebracht, jetzt wäre endlich Handeln angesagt. So sieht es auch Michael Rautenberg:
Ich sage deutlich, man wird an einer Fusion nicht vorbeikommen, wenn man hier und jetzt in Berlin künstlerisch
und finanziell überleben will. Alles andere wäre ein Gang in die Wüste.
Wenn man in der Sing-Akademie schon nicht auf ein Vorstandsmitglied hört auf wen dann? Rautenberg
war voller Hoffnung, dass ein Mann wie Karl Friedrich Zelter Impulse geben könnte. Der hat es auch versucht
und er versucht es weiter. Gerade hat er einen Brief an den Vorstand geschrieben mit dem Tenor, dass man sich
wenigstens in dieser Phase, wo man gerade alles verliere, an einen Tisch setzen müsse. Vielleicht wird
ja dieser Brief richtig gelesen und vielleicht geht ja bald ein Brief zurück nach Bassum mit einer Einladung
zu einem Konzert oder einem Gespräch? Aber von Bassum nach Berlin ist es eben doch ganz schön weit.