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nmz-archiv
nmz 2002/07-08 | Seite 48
51. Jahrgang | Aug./Sep.
Nachschlag
Künstlerkapitän
Im zweiten Teil seines Berichts zur Bühnenstruktur hatte Christoph Stölzl, seinerzeit
Kultursenator der Berliner CDU/SPD-Koalition, dem Abgeordnetenhaus von Berlin am 12. Oktober 2000 Vorschläge
zu Einsparungsmöglichkeiten, Rechtsformänderungen und organisatorischen Zusammenlegungen unterbreitet.
Keiner dieser Vorschläge erregte die Intendanten der großen deutschsprachigen Opernhäuser
mehr als Stölzls Versuch, die künstlerischen Profile der drei staatlichen Berliner Opern
zu definieren. Als unsinnig, ja schädlich und in wirren Köpfen entstanden
geißelten die Opernchefs von München, Stuttgart und Zürich, die am 27. Oktober 2000 im Großen
Sendesaal des SFB zu einer öffentlichen Diskussion des Stölzl-Papiers gekommen waren, dessen Ansätze,
den drei Häusern bestimmte Aufgaben zuzuweisen und die Schärfung der dramaturgischen Profile
zu fordern.
So sollte beispielsweise die Deutsche Staatsoper ihre künstlerischen Schwerpunkte auf Vorklassik, Klassik
und frühe Romantik legen, die Deutsche Oper sich auf die große Oper des 19. Jahrhunderts und die
Komische Oper konsequent an Felsensteins Musiktheater anknüpfen.
Sir Peter Jonas, General der Bayerischen Staatsoper, nahm das Grundgesetz in und kein Blatte vor den Mund:
Zum ersten Mal seit der Reichsmusikkammer versucht der Staat, die Kunst zu gängeln, indem er den
Häusern vorschreibt, wer welche Stücke zu spielen hat. Ein Künstlerkapitän
sei der Intendant, der allein den Kurs bestimme; ziemlich militärisch wie bei der Marine müsse
es im Theater zugehen.
Die Kapitäne der Panzerkreuzer auf den vergleichsweise ruhigen Gewässern des deutschsprachigen Südens
hatten gut reden: Zum einen vergaßen sie zu erwähnen, dass es in den Großstädten mit mehreren
Opernhäusern profilierende Arbeitsteilung durchaus gibt (Staatsoper und Gärtnerplatztheater in München,
Staatsoper und Volksoper in Wien), zum anderen schossen sie aus vollem Rohr Nebelgranaten Breitseiten,
um das Auftauchen eines Themas zu verhindern, das noch am wenigsten das der Großstadt-Theater, wohl aber
das vieler Stadttheater ist: Muss es im Theater wirklich wie bei der Kriegsmarine zugehen?
Nicht die Kollektive oder die mitbestimmte Theaterleitung der 70er-Jahre sind das
gefürchtete Thema, sondern die Frage, ob allein der Intendant befindet, ob und wie er seinen Öffentlichen
Programmauftrag erfüllt. Ob es nur das Mittel gibt, seinen Vertrag nicht zu verlängern, wenn
er erfolgreich sein Haus leer- und sein Defizit einspielt, und wenn der zuständige Schulstadtrat oder der
städtische Bildungsdezernent verlauten lässt, er lege auf Zusammenarbeit mit dem Theater keinen Wert
mehr, da weder der Spielplan noch die oft von Dekonstruktionen geprägten Inszenierungen mit dem Bildungsauftrag
der entsprechenden städtischen Einrichtungen in Übereinstimmung zu bringen seien. Wer Fidelio nicht
kenne, könne mit einem Florestan wenig anfangen, der auf einem Heizkörper in der Reichskanzlei sitzt
und sein Kerkerelend besingt.
Es ist bedauerlich, dass es den Kapitänen seinerzeit gelungen ist, die Debatte darüber
abzuwürgen, ob ihnen die Gesellschaft nicht auch einen Kultur- und Bildungsauftrag erteilt hat, um die
kollektive Erinnerung unserer Kultur wachzuhalten und weiterzugeben (John Dew) und ob das zivile Publikum
nicht mit auf der Brücke sitzt und die Chance haben will, sich in einer Geschichte zu erkennen
(Jürgen Flimm). Das sind Fragen, die sich heute weniger denn je werden unterdrücken lassen.