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nmz-archiv
nmz 2002/07-08 | Seite 39
51. Jahrgang | Aug./Sep.
Jazz, Rock, Pop
Nachschub
Elvis & Co.
Kultur bedeutet Aufschub: Sie verhindert, dass man sich dem Schmerz und der Lust sofort und vollkommen hingibt.
Sie bewahrt einen vor dem, was der Philosoph Hans Blumenberg den Absolutismus der Wirklichkeit genannt hat.
Sie mildert und sublimiert sogar die eigenen Ängste und Wünsche. Sie schützt und sie entfremdet.
Kultur hat es mit Repräsentation zu tun. Sie ist das Terrain der substitutes.
Der klassische Stellvertreter ist der Held. Er handelt für uns. Er verkörpert, was wir sind oder
sein wollen, was aber in uns meist diffus, unausgesprochen bleibt. Wer, wie es in der Moderne nicht selten geschah,
die Kunst demokratisieren möchte, will sie, genauer: die Repräsentation, die Stellvertretung,
die Entfremdung in Wahrheit abschaffen. Jeder ist ein Künstler (Beuys)? Nur, wenn die Kunst
im veränderten Alltag aufgehoben, wenn sie soziale Plastik werden soll. Bei David Bowie und
im Punk nahm derselbe Gedanke eine realistischere und desperatere Form an: Jeder kann ein Held sein aber
nur für eine Viertelstunde.
Kultur ist aber auch, fast vom ersten Augenblick an, reflexiv: Jeder Künstler antwortet auf etwas, was
schon da ist und das ist, in vielen Fällen, andere Kunst. Die Welt, mit der wir es zu tun bekommen,
ist meist von anderen schon vorformuliert. So wird aus dem Autodidakten Declan MacManus konsequenterweise die
Kunst-Figur Elvis Costello. Auch im Lande Pop geht es stets um Verbrechen und andere Leidenschaften. Und mögen
auch die Bedürfnisse und Energien noch so originär und authentisch sein, die Bilder und Geschichten
sind es nur selten. Sie sind Reste der Vergangenheit; Rollen, Masken und Muster, die so plausibel oder suggestiv
waren, dass sie überdauerten. Elvis Costello, der sich selbst in den späten 70ern als Punk nur kostümierte,
weil das damals This Years Model (so der Titel eines frühen Albums) war, kennt das Spiel
der Kultur. Selbst seine treuherzigsten Behauptungen (My Aim Is True) sind deshalb mit Vorsicht
zu genießen.
Das Raffinement im Sekundären beziehungsweise der Weiterverarbeitung dessen, was schon war, bewahrte freilich
auch den neuen Elvis nicht vor Labyrinth und Irrweg. Für den Pop- und Punk-Underdog ist das meist die Verlockung
der so genannten Hochkultur: Elvis Costello komponierte für das Brodsky Quartet (The
Juliet Letters), er ließ seine Songs von Neville Mariner und der Academy of St. Martin-in-the-Fields
aufführen, er performte selbst O Mistress Mine aus Shakespeares Zwölfter Nacht.
Eine Sehnsucht nach dem Theater, die ganz vergisst, dass Pop selbst schon die beste Bühne ist. Jetzt
endlich, nach sieben langen Jahren, die kulturbetriebsfett daherkamen, aber vielleicht doch eher mager waren,
ein neues authentisches Elvis Costello-Album, das schon im Titel (When I Was Cruel,
bei Universal Island Def Jam) andeutet, wo es herkommt und hingehört. Gleich im Opener 45 diskutiert
er auf schwindelerregende Weise, wie die Pop- und die reale Schreckens-Geschichte sich ständig aufeinander
beziehen, wie alles, was war, die eigene Biografie prägt und versehrt und wie virtuos man sich selbst auf
einer kleinen, rotierenden Scheibe drehen kann: Theres a rebel in a nylon shirt so
fangen Geschichten an, von denen man nicht weiß, wie sie jemals enden sollen. Die regressiven Fantasien,
denen E. C. auf Spooky Girlfriend freien Lauf lässt: I want a girl who has no past,
helfen jedenfalls kaum weiter.
Ein nicht minder raffiniertes Spiel treibt seit längerem Chris Isaak, auch wenn er in seiner Lieblingsrolle
als Second-Hand-Cowboy gern das true heart gibt, das einst selbst einen eiskalten Beobachter wie
Flaubert betörte. Chris Isaak hat, wie noch einige andere Groß-Pathetiker und Retro-Virtuosen, mit
leitmotivischen Titelsongs zu zwei großen Filmen von David Lynch und Stanley Kubrick Karriere gemacht:
Wicked Game deutete an, worin es in Wild At Heart, diesem ultimaten Pop-Mythen-Recycling-Kino
des Zeichen-Zauberers Lynch, geht. Und Baby Did a Bad Bad Thing gab den Grundton von Kubricks Schnitzler-Verfilmung
Eyes Wide Shut vor, in der es auch um das geht, was den Menschen vom Tier unterscheidet: die Möglichkeit
der Täuschung nämlich, samt all den Szenerien und Hysterien etwa der Eifersucht, die sie hervortreibt.
Mittlerweile ist Chris Isaak in den USA an der Seite Bridget Fondas mit einer eigenen Serie, die verstörenderweise
Show heißt, ein Fernseh-Star. Sein neues Album Always Got Tonight (bei WEA) schreibt
seine Elvis-aus-zweiter-Hand-Inszenierungen auf hohem, manchmal höchstem Niveau fort. Neues, Überraschendes
fehlt freilich weitgehend.
Die Alternative zu bigger than life ist seit längerem lo-fi, der reduzierte Charme
all der homemade-Helden, die bedrängende Ängste und Wünsche nicht zur Weiterverarbeitung
an die Kulturindustrie delegieren, sondern als Wohnzimmer-Mythomanen selbst Hand anlegen. Songs: Ohio
gehört zweifelsohne zu den berückendsten Projekten in der mittlerweile großen Will-Oldham-Tradition.
In Chicago, der Heimat von Tortoise und Sea and Cake, sollen schon diverse Ohio-Alben im Umlauf
sein; mit Didnt It Rain (Secretly Canadian/Cargo) tritt der Jason Molina-Freundeskreis jetzt
paradoxerweise selbst ins Zeitalter der Globalisierung ein und gibt uns elvissüchtigen Alteuropäern
die Gelegenheit, uns in diese wunderbar herabgetuneten Pop-Mantras einzuloggen: aufregende Bilder und betörende
Geschichten in souveränem Understatement präsentiert; statt live fast gewissermaßen
stand by.