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nmz-archiv
nmz 2002/07-08 | Seite 38
51. Jahrgang | Aug./Sep.
Jazz, Rock, Pop
Gut genug ist nicht gut genug
Mit einem grandiosen Selbstporträt zieht Artie Shaw die Summe aus seinem Schaffen
Elegantes Klarinettenspiel, Leitung eines erfolgreichen Orchesters, viele Swing-Hits... Denken
Sie bei diesem Steckbrief auch zuerst an Benny Goodman? Mit Artie Shaw und Benny Goodman verhält es sich
nämlich wie mit Schiller und Goethe. Im Zweifelsfall sind immer Goethe und Goodman die Bekannteren, Populäreren,
Zitierten, nicht Shaw und Schiller. Doch Artie Shaw hat gegenüber seinem Erzrivalen Goodman einen Vorteil:
Er lebt noch und kann Einfluss darauf nehmen, wie sein Lebenswerk rezipiert wird.
Dieser Umstand führte zu einer der ungewöhnlichsten Werkausgaben. In einer Zeit des Vollständigkeitswahns
(dem der Autor dieser Zeilen auch immer wieder anheim fällt) wurde eine auf fünf CDs beschränkte
Retrospektive herausgebracht, bei welcher Shaw selbst nach dem Motto gut genug ist nicht gut genug
eine Auswahl traf, die gleichwohl ein vollständiges Bild ergibt. Dabei konnte er neben Studio-Aufnahmen
für RCA, die Einspielungen für andere Konkurrenzlabels sowie Live- und Rundfunkeinspielungen berücksichtigen!
Man wundert sich, warum so etwas nicht alle Tage vorkommt. Der Urheber selbst, man stelle sich das einmal vor,
zieht die Summe seines Lebens, trennt die Spreu vom Weizen und greift, neben anderen Kennern zur Feder, und
dies in Zeiten, in denen so mancher Musiker seine eigene Platte nicht wiedererkennt, weil so viele zwischen
ihm und seinem Produkt zwischengeschaltet sind, dass er deren Treiben machtlos zuschauen muss. Doch das ist
ein anderes Kapitel.
Das hier erzählte Kapitel gehört mit zum Spannendsten der Jazzgeschichte. Shaw (heute 92 Jahre alt!)
war als Leader und Klarinettenvirtuose einer der erfolgreichsten Repräsentanten der Swing-Ära. Als
ewiger Konkurrent Goodmans mit zahlreichen Hits und als attraktiver Ehemann berühmter Filmschönheiten
wie Lana Turner oder Ava Gardner war Shaw eine zentrale Persönlichkeit des Showbusiness. Umso mehr wiegt
seine, von künstlerischer Integrität getragene, Verweigerung gegenüber dem Business,
die 1955 zum endgültigen Rückzug aus der Musik führte. Schon früher hatte sie ihn dazu bewogen,
seine Big Bands auf der Höhe ihrer Erfolge aufzulösen.
Die Auswahl sie verzichtet auf Tagesschlager, legt bei den Vokalaufnahmen strenge Kriterien an
bestätigt wieder diese Haltung. Es ging Shaw um die seiner Meinung nach besten Aufnahmen, nicht um jene
Stücke, die damals zufällig Hits wurden. (Begin The Beguine, das er nicht mehr hören
kann, fehlt trotzdem nicht!) Nicht selten gab Shaw einer ausgefallenen Live-Aufnahme den Vorzug gegenüber
bekannteren Versionen.
Wie wir nachhören können, beschäftigte Shaw als praktizierender Antirassist schwarze Größen
wie Billie Holiday und Roy Eldridge sowie als fortschrittlicher Kopf unter den Etablierten Neutöner wie
Dodo Marmarosa und George Russell. Shaw kreierte im Laufe seiner Karriere immer wieder neue Sounds, die auch
von seiner Liebe für klassische Musik künden: schon bei seinen ersten Aufnahmen fiel er damit auf,
dass er ein Streichquartett in die Jazzband integrierte. In der aus Orchestermitgliedern zusammengesetzten Gramercy
Five wurde ein Cembalo anstelle eines Klaviers verwendet. Wer mit den fünf CDs an einem entspannten
Nachmittag eine ganze Ära amüsiert, erquickt, erhoben und in jedem Fall gut unterhalten an sich vorbeiziehen
lässt, stellt sich dann doch die Frage, warum er im Zweifelsfall immer zu Goethe und Goodman gegriffen
hat.