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nmz-archiv
nmz 2002/07-08 | Seite 20
51. Jahrgang | Aug./Sep.
Rezensionen
Schwarzmarkt der Illusionen
100 Jahre, 100 Lieder: die Dietrich als große Entertainerin
Die Komplimente sind bekannt und doppeldeutig. Exemplarisch bleibt das Urteil Ella Fitzgeralds, die einst
von Marlene Dietrichs großartiger Nichtstimme schwärmte. Die Frage, die auch im Pop-Kontext
stets von neuem heftig diskutiert wird, drängt sich offenbar auf: Muss man singen können, um eine
große Sängerin zu sein? Die Antwort ist immer wieder dieselbe: Nein, natürlich nicht. Gesang
ist, jenseits der Akademien, also mitten im Leben, offenbar mehr und anderes als Stimmbildung und
die Kunst, den rechten Ton zu treffen. Wagner-Tenöre, die versuchen, eine simple Rock-Ballade nachzusingen,
stellen das schmerzhaft unter Beweis.
Marlene Dietrich hat auch in ihrer ersten Karriere als Schauspielerin gesungen. Der verruchte Sex, den der
blaue Engel Lola Lola verströmte, war nicht eine Sache der Beine, sondern der Stimme. Der Körper sprach
und zog alles in sein Pandämonium an Bereitschaft und Auflösung hinein. Marlene Dietrich, von
der Hemingway gesagt hatte, dass ihr Name mit unglaublicher Zärtlichkeit beginnt und mit einem Peitschenknall
endet, war eine große Performerin des grenzenlosen Begehrens und des urbanen Spotts.
In ihrer zweiten Karriere, die in den frühen 50-er Jahren begann, zog sie als große, globalisierte
Entertainerin durch die Unterhaltungstempel der Kulturindustrie, nicht nur in ihrem Bewusstsein, sondern auch
in ihrer Wirkung aufs Publikum kosmopolitisch, ein subversiver Glücks- und Rache-Engel, die
große Ikone eines Jahrhunderts, das aus den Fugen geraten war. Sentimentalitäten duldete die Dietrich
nicht, auch wenn sie, scheinbar eine große Unzeitgemäße in der Ära des Rockn
Roll, all die großen, pathetischen Lieder sang. Ihr Repertoire war enzyklopädisch, reichte quer durch
die Genres. Viele Lieder hat sie sich so gründlich angeeignet, dass man sie hauptsächlich mit ihr
verbindet, obwohl sie für andere und in anderen Zusammenhängen entstanden waren; nicht zuletzt auch
ein Verdienst ihres musical directors Burt Bacharach. Nur bei einigen wenigen, etwa Dylans Blowin
in the wind, gelang das, charmant gesagt, nicht so ganz.
Bei EMI ist jetzt eine fast alle Fan-Bedürfnisse befriedigende 4-CD-Box erschienen, mit den großen
Klassikern, aber auch einigen Raritäten und Fundstücken, die sich nicht zuletzt der detektivischen
Lust des nmz-Mitarbeiters und versierten Pop-Archivars Viktor Rotthaler verdanken.
Helmut Hein
Marlene
Dietrich: Der blonde Engel. Die Retrospektive. 4-CD-Box, EMI.