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nmz-archiv
nmz 2002/07-08 | Seite 17
51. Jahrgang | Aug./Sep.
Rezensionen
Symphonische Entdeckungen und DDR-Schnäppchen
Eduard Tubin, amerikanische Tondichtung, deutscher Expressionismus
1944 floh Eduard Tubin, mit noch nicht 30 Jahren schon Estlands größter Symphoniker, mit vier Symphonien
im Gepäck vor der Roten Armee übers Meer nach Schweden. Dort nahm man ihn zwar freundlich auf, doch
verfuhr man mit ihm wie eigentlich mit allen musikalischen Genies, die man hervorbrachte (zum Beispiel Berwald,
Pettersson oder heute Eliasson): Man ignorierte die herausragende Qualität seines Schaffens, zog ihm das
Establishment einer akademischen Moderne vor, die von Hilding Rosenberg an Ingvar Lidholm und Daniel Börtz
weitergereicht wurde.
Tubins Symphonik durchlief einen schmerzvollen Transformationsprozess, der sie nur umso unabhängiger erstrahlen
ließ. Die erste Welle der Tubin-Entdeckung durch Neeme Järvi in Göteborg haben wir nun lange
hinter uns, und leider ist durch Järvis pauschalen Zugriff, seine Unlust am Erarbeiten spezifischer Qualitäten,
ein erster Ansatz zu angemessener Durchsetzung dieser Musik damals versäumt worden. Nun kommt unerwartet
von dem kleinen finnischen Label Alba ein zweiter Vorstoß, und schon sind die Symphonien Nr. 2 bis 7 (entstanden
193757) in Neuaufnahmen des Estnischen Nationalen Symphonie-Orchesters unter Arvo Volmer da. Und plötzlich
stellt sich eine ganz andere suggestive Kraft der Tonsprache ein. Die Zweite, Legendäre, mit
ihren ungeheuer weiträumigen Steigerungswellen, die introvertiert spannungsgeladene Dritte, das unablässige
lyrische Aufblühen der Linie in der Vierten, das unmittelbar fesselnde, motivisch prägnanteste kompakte
Drama der Fünften, die gespenstische Assimilation von Jazz und Tanzlust in die schroffen Abgründe
der Sechsten, die neu gewonnene, in ihrer freiwilligen Kargheit beklemmend berührende nüchterne Haltung
der Siebenten: Eduard Tubin (190582) hat als Symphoniker meines Erachtens posthumen Anspruch auf einen
Platz in der Galerie der Großen des 20. Jahrhunderts, wie Sibelius, Nielsen, Schostakowitsch, Prokofieff,
Pettersson, um nur die geografisch näher liegenden zu nennen. Stilistisch sind natürlich Gemeinsamkeiten
mit anderen Meistern aus dem nordisch-sowjetischen Raum feststellbar, aber Tubins Eigentümlichkeit wird
für den, der anfängt, sich mit ihm zu beschäftigen, schnell unverkennbar. Dazu sei mit diesen
neuen Aufnahmen, die bald auch die Symphonien Nr.1 und 8 bis 11 umfassen sollen, aufgefordert.
Auch in der amerikanischen Musik gibt es immer wieder Entdeckungen zu machen, und dies nicht nur in neuer
Zeit. George Templeton Strong (18561948) war eng mit Edward MacDowell befreundet, ließ sich schließlich
am Genfer See nieder und fand in Ernest Ansermet einen effektiven Förderer. Seine über 40-minütige
Tondichtung Le Roi Arthur (1916) fasst alle wesentlichen Stationen der Artus-Legende inklusive Ginevras
Ehebruch und Mordreds Verrat zu einer Art Heldenleben-Apotheose zusammen (im ersten Teil wähnt man sich
teils fast in einer psychedelischen Doublette des Straussschen Heldenlebens). Das ist eine formal und
polyphon höchst meisterliche, bildkräftig beschworene Orchesterinszenierung aus eher spätromantischer
Sicht. Der zwei Jahre ältere George Chadwick war einer der wesentlichen Pioniere amerikanischer Orchestermusik,
und sein stärkstes Werk scheint mir in dieser Auswahl die Tondichtung vom betrunkenen Reiter Tam
OShanter zu sein, der zufällig einen Hexensabbat belauscht, dabei ertappt wird und den wütenden
Verfolgerinnen haarscharf entkommt. Chadwicks Vermögen drastisch-bizarrer, humoresker und sehr gegenständlicher
Schilderung mit rein musikalischen Mitteln ist hinreißend, und José Serebrier, einer der feinsten
Dirigenten unserer Zeit, entfaltet die Szenerie unwiderstehlich und lässt auch Harmloseres zum echten Vergnügen
werden. Als Komponist ist der aus Uruguay stammende Serebrier halb phantasmagorischer Kobold (Winterreise!),
halb differenziertester Traumreiter, mit einer extrem unkonventionellen, aber immer fantastisch klingenden Orchestration
und unerschöpf- licher Freude an zentrifugalem Kontrapunkt und unerhörten tonalen Wirkungen. Wo er,
den einst sein Mentor Stokowski als größten Meister der orchestralen Balance pries, seine
Werke selbst dirigiert, ist Erfrischung, Überraschung und funkensprühendes, hohes Karat garantiert.
Eine solche dirigentische Brillanz würde auch den Meistern des deutschen Expressionismus zu dichterer
Dramatik verhelfen, die Israel Yinon mit sehr beseelter Anteilnahme für Koch-Schwann aufnimmt. Er tut dabei
nichts Geringeres, als das Bild der Geschichte der deutschen Musik ein wenig zurechtzurücken. Heinz Tiessen
(18871971), Lehrer von Eduard Erdmann und Sergiu Celibidache, war einer der großartigsten deutschen
Tonschöpfer des Expressionismus, ausgehend von der Erfahrung Strauss und Schönbergs in bezwingender
organischer Gestalt sich vollendend. Im Dritten Reich wurde er kaltgestellt, danach wurde es still um ihn. Ähnlich
sein Schüler Eduard Erdmann (18961958), der zwar als Pianist für die vielleicht wunderbarsten
Aufführungen Bachscher und Schubertscher Werke geliebt wurde, als Komponist aber mehr und mehr
ein Schattendasein fristete. In den ersten zwei seiner vier Symphonien ist eine deutliche stilistische Entwicklung
von der Tiessen-Strauss-Nachfolge zu einer mit Schönberg sympathisierenden Eigentümlichkeit hin zu
beobachten, die auf paradoxe Art tiefen Ernst und kapriziöse Figurenlust verbindet. Emil Bohnke (18881928)
schließlich, durch einen Autounfall mitten aus der Intensität des Schaffens gerissen, steuerte aus
der strengen Zucht konservativ romantischer Bahnen mitten ins Abenteuer herb freitonaler Expressivität,
wovon die 1928 unter Erich Kleiber uraufgeführte Symphonie eindrückliches Zeugnis ablegt. Yinon rückt
diesen Werken mit Herzblut und lyrischem Impetus zu Leibe und wird mit seiner Nase für verborgene Schätze
in die Geschichte eingehen.
Wer viel gängiges und unbekanntes Repertoire auf hohem orchestralen Niveau für ganz wenig Geld möchte,
ist bei Edel Classics an der richtigen Adresse. Dort werden die Dirigierlegenden der DDR zu feinen Päckchen
geschnürt. Booklets gibts wie schon in den zwei Konwitschny-Folgen keine, aber auf 15 CDs das Vermächtnis
des unerbittlichen Präzisionsfanatikers Herbert Kegel, mit Raritäten von Friedrich Schenker, Goldmann,
Dessau oder Ernst Hermann Meyer, mit gestochen deutlich gestanzten Aufführungen von Schostakowitsch, Britten,
Sibelius, Bartók oder vor allem Schönberg, dessen erratischer Moses und Aron hier Referenzstatus
beanspruchen darf. Von Kurt Sanderling ist das längst bekannte Repertoire auf 16 CDs, nun aber für
jeden erschwinglich und im geistesgegenwärtig kontrollierten Klang und der klaren Diktion sozusagen Bestandteil
des klassischen Kanons deutscher Dirigierkunst. Und last but not least taucht der launige Musikant Otmar Suitner
zu seinem 80. Geburtstag aus der krankheitsbedingten Versenkung empor: einerseits mit einer persönlichen
Auswahl, die, neben ihm besonders ans Herz gewachsenen Ausschnitten aus Opern und Orchesterwerken, Launiges
aus der DDR enthält, so Paul Dessaus Mozart-Adaptionen oder Reiner Bredemeyers Bagatellen für
B[eethoven]; andererseits mit einer 11-CD-Box, die vor allem des teils sehr liebevoll einstudierten Seltenen
von Reger, Wolf, Strauss, Pfitzner, Weber oder Volkmann wegen empfohlen sei.
Christoph Schlüren
Eduard Tubin: Symphonien Nr. 2 & 5 (Alba Records ABCD 141), Nr. 3 & 6 (CD 147), Nr. 4 & 7 (CD
155); Estnisches Nat. SO, Arvo Volmer (Vertrieb: Klassik-Center)
George Templeton Strong: Le Roi Arthur, Die Nacht (Naxos 8.559048); Moskauer SO, Adriano
George Chadwick: Tam OShanter, Symphonic Sketches, Melpomene Overture (Reference Recordings RR-64),
Suite Symphonique, Aphrodite, Elegy (RR-74); Tschechische Staatsphilharmonie Brünn, José Serebrier
José Serebrier: Partita, Fantasia, Winterreise, Sonate für Violine solo (RR-90); London Philharmonic
Orch., Serebrier (Vertrieb: in-akustik)
Heinz Tiessen: Symphonie Stirb und Werde!, Hamlet-Suite, Vorspiel zu einem Revolutionsdrama,
Salambo-Suite (Koch-Schwann 3-1490-2); RSO Berlin, Israel Yinon
Eduard Erdmann: Symphonien Nr. 1 & 2, Rondo op. 9 (Koch-Schwann 3-6572-2); RSO Saarbrücken, Yinon
Otmar Suitner & Staatskapelle Berlin, Seine persönliche Auswahl zum 80. Geburtstag:
Dessau, Bredemeyer, M. Schubert, Ausschnitte aus Opern und Orchesterwerken; Berlin Classics 94722BC (Vertrieb:
Edel)