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nmz-archiv
nmz 2002/07-08 | Seite 22
51. Jahrgang | Aug./Sep.
Noten
Rasend auf der Autobahn, Erdbeben am Klavier
Klavierstücke von J. Chr. Bach, Clementi, Mendelssohn-Bartholdy und Steffen Schleiermacher
Johann Christian Bach: Sonate Es-Dur op.17/3, Heinrichshofen N2422
Die Sonate Es-Dur erschien bisher in einer zweisätzigen Fassung (Allegro assai, Allegro), was nicht weiter
verwunderte, da die Sammlung op. 17 sechs sowohl zwei- als auch dreisätzige Sonaten enthält. Die vorliegende
dreisätzige Ausgabe mit einem eingefügten Andante beruft sich auf die Entdeckung des Autographs im
Museum Carolino Augusteum in Salzburg. Interessant ist, dass sich diese Sonate in der Musikaliensammlung der
Familie Mozart befand. Der jüngste Bach-Sohn nahm sich seiner an und beeinflusste die kompositorische Entwicklung
Mozarts nachhaltig. J.Chr. Bachs Schaffen wiederum wurde geprägt durch die Erfahrungen, die er in
Italien sammelte, und durch die Verbindung zur Mannheimer Schule. Er entwickelte einen galanten Klavierstil,
und mit seinem singendem Allegro hatte er wesentlichen Anteil an der Entstehung der Sonate. Im Gegensatz
zur tonartlichen Einheit barocker Suiten steht nun der langsame Satz in einer verwandten Tonart (hier in B-Dur).
Der Dualismus zweier Themen in der Exposition ist bereits hochentwickelt, indem das zweite Thema durch seinen
gesanglichen Charakter kontrastiert und seine Spannung auch harmonisch durch die Dominanttonart unterstreicht
also eine schon fast klassische Themenaufstellung. Im Andante zauberte Bach eine Arie aufs
Klavier, unterlegt mit Akkordbrechungen, die Ruhe ausstrahlen, als wollten sie den Verlauf der Melodie nicht
stören. Filigrane Verzierungen deuten wohl eher auf die Ausführung am Cembalo hin, obwohl Bach das
Hammerklavier als Möglichkeit offenhielt, was damals gängige Praxis war.
Muzio Clementi: 6 Sonaten op. 1, Schott ED 9029
Clementi beeinflusste die Entwicklung der Sonatenform nachhaltig, klavierpädagogische Werke wie das Gradus
ad Parnassum sind noch heute in Gebrauch. Über 100 Klaviersonaten und -sonatinen sind überliefert,
was ihm wohl auch den Ruf eines Vielschreibers einbrachte. Die sechs Sonaten op. 1 entstanden in
Fonthill Abbey, als Clementi dort von 17661773 auf dem Gut seines Gönners Peter Beckford weilte.
Dass er die Gattung Klaviersonate für seine frühen Kompositionsversuche wählte, verwundert nicht.
In den zumeist zweisätzigen Sonaten verschmelzen jugendlicher Elan und technische Brillanz; als Pianist
sorgte er für einen absolut flüssigen Klavier-satz und Perfektion im Schriftbild (teilweise ausnotierte
Verzierungen) zugunsten einer unmissverständlichen Interpretation. Bevor junge Klavierspieler die Sonaten
der großen Klassiker einstudieren, sollten sie als Einstieg mit den reizvollen und dankbaren
Sonaten Clementis beginnen.
Felix Mendelssohn-Bartholdy: Adagio und Presto agitato b-moll, Josef Weinberger Musikverlage Frankfurt
Dieser Erstveröffentlichung liegt ein Manuskript zugrunde, das eine verblüffende Ähnlichkeit
zum Capriccio III op. 33 des Komponisten aufweist. Beide Stücke sind zudem noch mit dem gleichen Entstehungsjahr
versehen, so dass sich die Frage nach dem zuerst entstandenen förmlich aufdrängt. Das Adagio
und Presto agitato ist während des Englandaufenthaltes des jungen Mendelssohn komponiert worden.
Er widmete es Maria Alexander, einer Freundin, die eine begeisterte Sammlerin von Albumblättern
war. Das Manuskript ist unterzeichnet mit London, August 1833, wobei man davon ausgehen muss, dass
das Stück bereits im Juli des Jahres vollendet wurde und es sich hierbei um eine Reinschrift handelt. Zum
anderen teilt Mendelssohn 1834 Karl Klingemann in einem Brief mit, dass er an Capricen arbeite und das Stück
für Maria Alexander, welches Klingemann wohl kannte, in veränderter Form mit einbringe. Als die Trois
Caprices 1836 als sein op. 33 erschienen, trugen sie eine Widmung an Klingemann. Vergleicht man beide
Stücke, so erkennt man schon am Notenbild deckungsgleiche Teile im Presto. Kleinere Veränderungen
in der Notation, Oktavierungen, Wiederholung von Motiven, Hinzunahme von Stimmen lassen das Double (absichtlich?)
virtuoser erscheinen. In den beiden Adagios dagegen gibt es keinerler Parallelen. Die erste Fassung beginnt
im 3/4-Takt, hat mehr einleitenden Charakter (35 Takte), ist in sich stimmiger und geht nahtlos ins Presto (4/4-Takt)
über. Sachlichkeit, eine gewisse Unruhe durch immer wiederkehrende Sechzehntel-Motive, eine Zäsur
in F-Dur nach 20 Takten (hier allerdings im 4/4-Takt) und eine kurze kraftvolle Modulation über den Septakkord
nach b-Moll lassen diese später erschienene Fassung etwas gekünstelt wirken. Vielleicht hielt Mendelssohn
sein erstgeschriebenes Werk für verschollen, weshalb er es später in der aufbereiteten
Form rückdatierte. Oder orientierte er sich in seiner ersten Fassung an den pianistischen Fähigkeiten
von Maria Alexander? Trotz dieser offener Fragen lohnt es sich, diese Erstveröffentlichung zur Hand zu
nehmen.
Steffen Schleiermacher: Zwölf Klanglandschaften im Klavier, Edition Breitkopf 9137
Die hier vorliegende Sammlung kann als Vorzeigeobjekt für den verantwortungsvollen Umgang mit neuer Musik
gelten. Die Ästhetik der Stücke und (das ist besonders lobenswert) die klavierpädagogischen Aspekte
zeugen von absoluter Kompetenz; schließlich ist Schleiermacher Komponist und Pianist. Er weiß, worauf
es ankommt: seine Stücke sind gut durchdacht (auch hinsichtlich der Spieltechniken), die Dramaturgie stimmt,
er verzichtet auf Effekthascherei, das Notenbild ist sehr übersichtlich. Begleittexte mit Hinweisen zur
Umsetzung des Notentextes sowie eine vom Komponisten meisterhaft eingespielte CD verdeutlichen zudem seinen
Wunsch nach präziser Interpretation. Die experimentelle Beschäftigung mit dem Instrument lässt
wahrhaftig Klanglandschaften im Klavier entstehen: der Einsatz an sich bekannter Techniken (beispielsweise Abdämpfen,
Zupfen, Sreichen von Saiten, stummes Drücken von Tasten, die Verwendung des Sostenuto-Pedals auch in Verbindung
mit Clustern), die Behandlung von Metrum und Rhythmus, die Ausschöpfung des gesamten Tonumfangs, Virtuosität,
Klangkultur, die Auswahl der Themen (zum Beispiel Am Bergsee, Im Schiefergebirge, In
der Höhle, Nach dem Erdbeben, In der Burgruine, Auf der Autobahn)
und deren stilsichere Umsetzung werden zu einem stimmigen Ganzen. Die Stücke haben verschiedene Schwierigkeitsgrade,
verlangen jedoch eine mehrjährige fundierte Ausbildung sowie die Fähigkeit zum Hin(ein)hören.