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nmz-archiv
nmz 2002/09 | Seite 8
51. Jahrgang | September
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Dr. Hackenbush
Dass Kapitalismus irgendwie mit Betrug zu tun hat, ist eine Vermutung,
die einen immer mal wieder beschleicht, die man aber als eine besonders
unanständige selbstverständlich auch immer gleich wieder
verdrängt. Etwa dann, wenn man erfahren hat, dass der Zweitschlechteste
in der Schule, der seinen Kameraden immer defekte Radios verkauft
hat, mit dreißig Besitzer eines Nachtklubs nebst Villa an
der Côte d’Azur geworden ist. Oder bei jenem Witz vom
Klassentreffen, bei dem der Lehrer seinen allerdümmsten Schüler
fragt, was er denn nun so treibe, und der antwortet: „Wissen
Sie, ich kaufe Schrott das Kilo für eine Mark und verkaufe
ihn für vier, und von diesen drei Prozentchen lebe ich.“
In solchen Momenten stillen Zweifels wirken die Wahrsprüche,
mit denen wir erzogen worden sind, als wahre Retter in der Not.
Etwa „Ehrlich währt am längsten“ oder andere
Lebensweisheiten aus Johann Peter Hebels Schatzkästlein. Pädagogisch
richtig eingesetzt, beseitigen sie in Windeseile jeden fundamentalen
Zweifel an der Korrektheit des Systems, in dem wir leben, und wecken
in uns die wackere Überzeugung: Wer zweifelt, kann nur ein
Systemfeind sein! Und die sind bekanntlich anderswo zu finden.
Doch nun, knapp ein Jahr nach dem denkwürdigen Tag, an dem
das Netzwerk bärtiger Fanatiker im fernen Afghanistan ultimativ
als Hort alles Bösen enttarnt wurde, beschleicht uns wieder
so eine unanständige Ahnung, dass die wahren Systemfeinde vielleicht
ganz woanders sitzen. Etwa doch nicht etwa in ...?
Pfui, New York ist schon gebeutelt genug! Und Washington, Halt!
Dort sitzt doch die Regierung, die versprochen hat, die Bilanzbetrügereien
in den Vorstandsetagen mit Haut und Haar auszurotten! Zum Glück
gibt es da einen Vizepräsidenten, der dank seiner überaus
engen Kontakte zum Ölkonzern Enron genau Bescheid weiß,
wie solche Betrügereien zustande kommen und wie man sie bekämpft.
Doch diese dumpfen Ahnungen und Vermutungen! Nun haben sie offenbar
sogar diejenigen beschlichen, die an der Wall Street für die
Glaubwürdigkeit des ganzen Systems zuständig sind. Kredit
kommt ja von Glauben, und daran schien es auch diesen merkwürdigen
Hohepriestern des globalen Finanzkults plötzlich zu fehlen.
Ließen sie doch die Kurse nach Bekanntwerden der Bilanzfälschungen
von Enron, Worldcom und anderer hoch angesehener Pleitefirmen noch
tiefer fallen als nach dem elften September. Meinten sie etwa, dass
vielleicht die Falschen im orangen Dress in Guantanamo einsitzen?
Der Blick in den schwarzen Abgrund war indes nur von kurzer Dauer.
Die Gesetze der Seifenoper übernahmen wieder das Kommando mit
der dramaturgisch interessanten Fragestellung: Was kommt im Moment
größter Anfechtung? Antwort: Auftritt des Weißen
Ritters! Der Präsident gibt sein heroisches Credo für
die beinahe ewigen Werte ab, alle lesen ganz schnell Johann Peter
Hebel, und alles ist wieder gut. Die Kurse steigen wieder. Noch
Fragen?
Die Handlungsmodelle der Amtsträger dieser Welt werden zwar
von Scharen von wissenschaftlichen Beratern, Analytikern, Geheimdienstlern
und PR-Spezialisten ausgebrütet und vermitteln dem Politik-Zuschauer
den Eindruck von autonomen Willensakten. Doch folgen sie im Grunde
eher dem Muster: So tun als ob, und das Ganze bitte fernsehspezifisch.
Es ist das Muster der Marx Brothers, die ihre größten
Lacherfolge mit Szenen nach dem Motto „je dreister, desto
erfolgreicher“ errungen haben. „A Day at the Races“:
Groucho Marx als angemaßter Pferdearzt Dr. Hackenbush, der
sich einer hysterischen Gesellschaftsdame als Wunderheiler empfiehlt.
„A Night at the Opera“: Die Brothers als schwarze Passagiere
auf dem Luxusdampfer, die sich bei der Landung mit falschen Bärten
ausstatten und vom New Yorker Bürgermeister als kühne
russische Flieger gefeiert werden. Bis plötzlich ein Bart ab
ist und der Schwindel auffliegt.
Groucho Marx war auch bekannt für die unglaubliche Gewandtheit,
mit der er in seiner erfolgreichen Radioshow „You Bet Your
Life“ die von Gagwritern vorformulierten Texte von einer Schrifttafel
der Vorform des heutigen Teleprompters ablas und dabei den Eindruck
erweckte, es seien seine spontanen Witze. Damit ist aber auch schon
Schluss mit den Parallelen. Während die Marx Brothers sich
offen über ihre eigenen Einfälle lustig machen und das
Publikum damit umso mehr zum Lachen bringen, glauben die Politiker
an die Sprüche auf dem Teleprompter. Zum Lachen ist das bekanntlich
nicht. Und wenn einmal der Bart ab ist, wird er eben wieder angeklebt
und so getan, als sei nichts gewesen. Auch das ist leider überhaupt
nicht komisch.
Es heißt, im Fernsehzeitalter müssten sich die öffentlichen
Funktionsträger den Gesetzen des Entertainments unterwerfen,
wollen sie „draußen ankommen“. Nachhilfestunden
bei Groucho wären da sicherlich ein Segen, um die eigene Politik
zu verkaufen – nicht nur, damit am richtigen Ort gelacht wird.
Die Bilanzkünstler des heutigen Show-Kapitalismus sind da schon
weiter, denn ihre Logik gleicht dem, was Groucho als Wirtschaftsberater
Dr. Flywheel einem Kaufhausbesitzer erzählt, um das lahmende
Geschäft zu beleben. Er empfiehlt ihm die Einrichtung eines
Dollar-Verkaufsstands: „Wenn Sie die Dollars für fünfundneunzig
Cent verkaufen, dann gehen die Dinger weg wie warme Semmeln.“