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nmz-archiv
nmz 2002/09 | Seite 39
51. Jahrgang | September
Oper & Konzert
Auftritt im Bordell: die Rollenspiele der Mächtigen
Peter Eötvös schrieb eine Oper nach Jean Genets Schauspiel
„Le Balcon“ – Uraufführung in Aix-en-Provence
Die Musikfestspiele in Aix-en-Provence warteten in diesem Jahr
mit einer gewichtigen Novität auf: Der Komponist Peter Eötvös
präsentierte seine neueste Oper „Le Balcon“, nach
dem gleichnamigen Theaterstück Jean Genets. Seit dem großen
Erfolg seiner Oper „Drei Schwestern“, nach Tschechows
Drama, zählt Eötvös zu den gefragtesten Komponisten
für das Musiktheater. Ob „Le Balcon“ die gleiche
Aufmerksamkeit wie die „Trois Soeurs“ erringen wird,
muss abgewartet werden. Die Urteile für „Le Balcon“
fielen äußerst gegensätzlich aus.
Opern-Uraufführungen in Aix blieben in der Vergangenheit eher
peripher und auf Petitessen beschränkt. Insofern bedeutet die
Eötvös-Premiere also einen Neubeginn. Wie in der Formel
Eins standen am Beginn der Arbeit einige Bedingungen: Die neue Oper
sollte einen französischen Stoff in der Landessprache behandeln,
die Oper war in der instrumentalen Ausführung auf die Möglichkeiten
des Ensemble Intercontemporain abzustellen, der Ort der Premiere
stand ebenfalls fest: die Festspiele in Aix-en-Provence. Die Aufführung
sollte so gestaltet sein, dass sie anschließend auch auf Reisen
zu anderen Bühnen gehen kann.
Nach etlichen Lesungen von allen möglichen Texten und Vorlagen
geriet Jean Genets Theaterstück „Le Balcon“ in
die engere Auswahl und wurde schließlich von Peter Eötvös
als „ideale“ Vorlage angenommen.
Was mag den Komponisten an Genets 1955 erschienenem Stück
gereizt haben? Vielleicht das Spannungsverhältnis zwischen
der Realität einer bürgerlichen Gesellschaft und deren
Illusionen. Genet sah das durch eine surrealistische Brille, als
eine Art absurden Theaters, das damals besonders in Mode war. Als
geeigneter Ort für diese Begegnung zwischen Wirklichkeit und
Illusion erschien Genet das Bordell: „Großer Balkon“
heißt das Etablissement der Madame Irma. Von einer Edelprostituierten
zur Firmenchefin avanciert, schätzt sie es, in ihrem „Haus“
die Spitzen der Gesellschaft zu empfangen – den Bischof, den
Richter, den General sowie den über allen stehenden Polizeichef.
Deren Auftritte im Bordell dienen allerdings weniger ihren sexuellen
Bedürfnissen, sie spielen vielmehr Rollen durch, ihre Rollen.
Sie entwerfen Bilder, in denen sie sich überhöht widerspiegeln,
und um nicht vollends den Boden unter den Füßen zu verlieren,
lassen sie sich von den Liebesdienerinnen der Madame Irma erniedrigen.
Der Realität im „Haus der Illusionen“ enthoben,
bemerken sie auch nicht mehr, daß sich außen eine Revolution
zusammenbraut. Gewehrsalven und das Geschrei der Menge tönen
herein. Schließlich folgt, ähnlich wie in der „Dreigroschenoper“,
die absurde Überhöhung: Ein Bote meldet den Tod der Königin,
Madame Irma wird selbst zur Regentin gewählt und beruft ihre
Klientel in die Regierung. Eine Angestellte von Madame hat inzwischen
ein eigenes Bordell eröffnet. Das Spiel beginnt von vorn und
bedeutet soviel wie „Die Welt ist ein einziger großer
Puff“.
Das Bordell als Welttheater. Warum nicht? Ganz abwegig erscheint
der Einfall nicht. Man braucht nur die täglichen Nachrichten
zu hören und die bunten Blätter zu lesen. Genets Text,
liest man ihn wieder, wirkt zwar schon recht altbacken und ein wenig
ranzig schmeckend. Dennoch kann man in der retrospektiven Lektüre
etwas Konkretes erfahren: Warum zehn Jahre später in Paris
und dann auch bei uns in Deutschland die Studenten gegen diese groteske
Panoptikumssozietät rebellierten. Eben darum: Weil die Gesellschaft
den Bezug zu Realität verloren hatte, sich in eitler Selbstbespiegelung
für die allerbeste, allergrößte, aller erfolgreichste
hielt. Peter Eötvös hat als junger Mann und Musiker die
68er Revolution unmittelbar erfahren, erkannte wohl in Genets Panoptikum
deshalb auch die Zustände und Figuren, die zu der Rebellion
geführt haben.
Heute ist das wohl nur noch als Kabarett zu goutieren. Und so
nähert sich Eötvös denn auch seiner „gewählten“
Vorlage, die Françoise Morvan so kürzte und bearbeitete,
dass aus dem weitschweifigen Drama ein funktionales Opernbuch entstand.
Von einer neuen Literaturoper zu sprechen, wäre indes verfehlt.
Schon bei Genet wird die narrative Kontinuität durch Absurdität
aus den Gesetzen einer linearen Erzählstruktur gerissen. Eötvös‘
Hinwendung zu dem Stoff darf deshalb vor allem musikalische Gründe
gehabt haben: Das Stationen-Stück gestattet es dem Komponisten,
sich gleichsam punktuell mit seiner Musik in die jeweilige szenische
Situation „einzumischen“. Was wird da alles vom Ensemble
Intercontemporain der Szene zugespielt: Big-Band-Sound, Jazzoides,
Weill-Rhythmik, Liebesduett-Lyrik aus der Opernkiste, instrumentales
Theater, für das Musiker auf die Bühne treten. Auch Schönbergs
Sprechgesang findet seinen Platz, Schlagzeugbesen streichen zärtlich-melodisch
über Becken, Zitate kommen von Bizet, Messiaen, Chanson-Schmeicheleien
von Montand und Jacques Brel. Die Menschen auf der Bühne erhalten
die Musik, die sie verdienen: als Versatzstücke einer musikalischen
Realität, die mit einer gesellschaftlichen Zerstückelung
korrespondiert. Wer kann denn überhaupt noch in größeren
Zusammenhängen und Zeitspannungen denken und fühlen? Eötvös‘
Oper bildet also auch und vor allem unsere Wirklichkeit ab –
was, wie wir wissen, nicht unbedingt nur Erfreuliches bedeutet.
Dass Eötvös diese „Standpauke“ mit freundlich
scheinender Ironie vorträgt, sollte einen nicht über den
Ernst der Lage hinwegtäuschen.
Bedauerlicherweise ließ sich in Aix der Regisseur Stanislas
Nordey wohl über diesen versteckten Ernst täuschen: Seine
Inszenierung strotzte vor Harmlosigkeit. Gewiss, sie war lustig,
heiter gestimmt, parodistisch, bunt, komisch, grotesk, theatralisch,
aber von allem nur so viel, dass nichts Durchschlagendes dabei herauskam.
Eötvös‘ Musik darf einen nicht täuschen: ihre
Eleganz und einschmeichelnde Sinnlichkeit ist nichts als Ironie.
Die Szene müßte dazu das ergrimmte Schreckensbild einer
derangierten Sozietät entwerfen. Eine neue, andere Inszenierung
ist erwünscht.
In Aix überzeugte vorerst nur die musikalische Realisation.
Perfekt das Ensemble Intercontemporain unter der Leitung des Komponisten.
Instrumentale Feinarbeit von höchstem Schliff, präzis
bis in die letzte komponierte Geste, klanglich von erster Qualität.
Das Ensemble mag sich mit einem kollektiven Lob zufrieden geben:
Das Engagement für die neuen Figuren auf der Opernbühne
war überall bewundernswert spürbar. Für das intellektuelle
Profil des „Festival d’Aix-en-Provence“ war die
Uraufführung ungemein wichtig.