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nmz-archiv
nmz 2002/09 | Seite 40
51. Jahrgang | September
Oper & Konzert
Die Jugend Europas bringt vielfältige Musikerfahrungen ein
young.euro.classic 2002: Spannende Begegnungen beim Europäischen
Musiksommer Berlin
Das Berliner Sommerfestival young. euro.classic, das nun zum dritten
Mal stattfand, stellt eine überzeugende Verbindung von künstlerischer
und politischer Manifestation, öffentlicher und privater Initiative
dar. Bei allen 16 Konzerten, die innerhalb von 17 Tagen im Konzerthaus
am Gendarmenmarkt zu erleben waren, stimmte schon der lange blaue,
gelbbesternte Teppich, auf dem das Publikum vom Schiller-Denkmal
zum Eingang emporschritt, auf Europa ein. Als Hinweis auf die neue
gemeinsame Währung konnte man den Eintrittspreis verstehen,
der für alle Konzerte auf allen Plätzen nur 8,50 Euro
betrug und so auch Erwachsene in den Genuss von Jugendpreisen kommen
ließ. Jung und Alt, Deutsche und Nicht-Deutsche mischten sich
problemlos, was zu der angeregten und dennoch lockeren Atmosphäre
beitrug.
Aber wie die Europäische Union sich nicht auf die Euro-Währung
reduziert, beschränkte sich auch dieses Festival nicht auf
Einheitsrituale oder gar Uniformität. Ganz im Gegenteil entstand
ein reiches, vielgestaltiges Bild, erhielt doch jedes der eingeladenen
europäischen Jugendorchester die gleiche Chance zur Selbstdarstellung,
wobei der Europa-Begriff bewusst weit gefasst wurde. Für jeden
Abend lagen lesenswerte Programmhefte vor, die kompetent in die
gespielten Werke und die Musikkultur des jeweiligen Landes einführten
(ergänzt durch: www.young-euro-classic.de).
Das Sinfonieorchester des
Staatskonservatoriums Ankara. Foto: YEC
Provokativ hatten die Veranstalter das problematischste Land gleich
an den Anfang gestellt. Wer in Berlin lebt, der größten
„türkischen“ Stadt außerhalb der Türkei,
weiß, dass hier in den letzten Jahren Tendenzen zur kulturellen
und religiösen Separierung eher zugenommen haben. Aus Autos
und Wohnungen Berliner Türken hört man fast durchweg Klänge
aus dem arabisch-orientalischen Kulturkreis. Demgegenüber zeigte
das Sinfonieorchester des Staatskonservatoriums Ankara die West-Orientierung,
wie sie Paul Hindemith – im Sinne Kemal Atatürks –
als Berater des Konservatoriums einst zu realisieren gesucht hatte.
Der in Frankreich ausgebildete Orchesterleiter Ibrahim Yazici, lange
Organist der Vatikanischen Botschaft in Ankara, bewies bei Hindemiths
Ouvertüre „Amor und Psyche“ und Strawinskys „Feuervogel“
Geschick beim Ausformen von Dynamik und Klangfarbe.
Keine Probleme hinsichtlich der kulturellen Zugehörigkeit
zu Europa gibt es bei Frankreich, Italien, Belgien, Griechenland
und Spanien. Bei den Jugendorchestern der betreffenden Länder
zeigten sich allerdings deutliche Niveauunterschiede. Vielleicht
war es nicht ganz fair, neben das Konservatoriumsorchester von Lyon,
das Orchestra Giovanile Italiana und das Philharmonische Jugendorchester
Flanderns das einer anderen Klasse zugehörige Orchester der
Aristoteles-Universität Thessaloniki zu setzen, das bis dahin
noch nie im Ausland gastiert hatte. Das anspruchsvolle Concerto
Grosso Nr. 4 von Alfred Schnittke brachten die Griechen immerhin
passabel heraus, währen sie von den griechischen Tänzen
von Nikos Skalkottas überfordert schienen. Schon bei der Hymne
bemerkte man, dass hier keine Musikstudenten, sondern Liebhaber
am Werke waren. Vielleicht die nachhaltigste Wirkung hinterließ
Vicky Leandros, die Patin des Abends, mit ihrem Aufruf zur Versöhnung
zwischen Griechenland und der Türkei.
Auch zwischen Deutschland und Frankreich hatte es einmal erbitterten
Streit gegeben. Dass die Auseinandersetzungen um Lothringen und
das Saarland längst der Vergangenheit angehören, bringt
das grenzüberschreitende SaarLorLux-Kammerorchester schon durch
seinen Namen zum Ausdruck. Musiker aus drei Nationen demonstrieren
hier eine über Kohle und Stahl hinausgehende Gemeinsamkeit
der Region. Das routiniert wirkende Kammerorchester besteht aus
fertigen Berufsmusikern, weshalb es innerhalb des Festivals Sonderstatus
besaß. Studenten waren dagegen die drei Solisten. Philippe
Mesin, Jan Orawiec und Öczan Ulucan gehören zur Saarbrückener
Violinklasse von Maxim Vengerov, der bei drei der nicht weniger
als sechs Violinkonzerte selbst mitwirkte. Zur selbstverständlichen
Technik trat bei Jan Orawiec eine eigenständige Musikalität,
mit der er bei Schuberts a-Moll-Rondo und vor allem Mendelssohns
frühem d-Moll-Konzert den Abweichungen vom klassizistischen
Schema nachspürte.
In herausragender Qualität präsentierte sich in Berlin
Spanien, das seit einigen Jahren seine Ausbildungsinstitute reformiert
– mit hörbarem Erfolg. Dabei hatte der als Dirigent des
Joven Orquestra Nacional de España vorgesehene Gunther Schuller
kurzfristig absagen müssen. Xavier Puig Ortiz, stellvertretender
Dirigent des 1983 gegründeten Orchesters, sprang bravourös
ein. Schon mit den ersten fulminant gespielten Takten der „Double
variations“ von Agustín Charles Soler war die von Adrienne
Goehler zuvor beschworene kulturelle Isolation unter der Franco-Diktatur
vergessen. Mit scharfen Akzenten und zerklüfteten Klängen
meldete sich hier ein modernes Spanien zu Wort, das die Einengung
auf Folklore und Tourismus von sich weist. Noch mehr in seinem Element
war der der Chorszene entstammende Dirigent bei Schullers „Farbenspiel“,
das 1985 für das Berliner Philharmonische Orchester entstand,
sowie in der vierten Symphonie von Brahms, die er mit weich fließendem
Schlag und unterstützt von tadellosen Holzbläsern zu eindrucksvoller
Homogenität brachte. Bei einem weiteren spanischen Abend bot
das international besetzte Schleswig-Holstein Musikfestival Orchester
noch einmal eine Steigerung an orchestraler Brillanz. Die 130 Musiker
im Alter von 16 bis 27 Jahren, die aus über tausend Bewerbern
ausgewählt worden waren, zeigten gleich bei „Don Juan“
von Strauss ihre Pranke. Bei Manuel de Fallas „Nächte
in spanischen Gärten“ gelang die Koordination zwischen
dem Solisten Homero Francesch und dem Dirigenten Cristóbal
Halffter weniger perfekt. Um so überlegener leitete Halffter
die eigenen Orchesterwerke. „Odradek“, eine Hommage
an Franz Kafka, begann mit dumpfem Grollen der Kontrabässe
und widmete sich auch weiterhin mit klanglicher Finesse dem Düsteren
und Ungewissen. Spielerisch-heller, aber nicht ganz so überzeugend
gelang im ebenfalls groß besetzten Divertimento „Halfbéniz“
die Annäherung an Isaac Albéniz. An rhythmischer Präzision
ließ freilich auch diese Interpretation keine Wünsche
offen.
Als spannend erwies sich die Begegnung mit den drei baltischen
Staaten, die vor gut zehn Jahren ihre Unabhängigkeit von der
Sowjetunion erkämpften. Das in der Mitte gelegene Lettland
besitzt traditionell enge Beziehungen zu Deutschland, wirkte doch
in der Hansestadt Riga einst Richard Wagner als Kapellmeister. Eine
leichte Verkrampfung im Verhältnis der beiden Länder zeigte
sich nach dem gönnerhaften Grußwort des einstigen Botschafters
Hagen Graf Lambsdorff auch darin, dass Imants Resnis, Leiter des
Symphonieorchesters der Jazeps Vitols Musikakademie, Hindemith zum
zackigen Preußen machte. Dessen Sinfonischen Metamorphosen
über ein Thema von Carl Maria von Weber trieb er durch sein
martialisch rasches Dirigat alle Leichtigkeit und Eleganz aus. Witz
fehlte leider auch der auf Weber-Zitaten aufbauenden Collage „One
more Weber’s opera...“ für Klarinette und Orchester
von Peteris Plakidis und erst recht der pathetisch auftrumpfenden
Symphonie Nr. 2 von Peteris Vasks.
Dass sich das Symphonieorchester der Litauischen Musikakademie
glücklicher präsentierte, war auch der kompetenten Einführung
Thomas Roths zu verdanken. Der jetzige Leiter des ARD-Hauptstadtstudios
kennt die Traditionsbindungen der baltischen Staaten aus seinen
Jahren als Moskau-Korrespondent. Ein noch besserer Botschafter seines
Landes war der heute in Berlin lehrende Meistercellist David Geringas,
der das neue „Konzert in Do“ von Anatolijus Senderovas
mit so konzentrierter Subtilität zur Uraufführung brachte,
dass man die schlichte Faktur des eingängigen Werks glatt vergaß.
Aber mit seiner Zugabe („Cantus II“) erinnerte Geringas
daran, dass Senderovas schon expressiver und risikofreudiger komponiert
hat. Allerdings besitzen die Litauer dank der in allen baltischen
Staaten blühenden Chortradition ein sensibles Klangempfinden,
wie auch ihrer Wiedergabe von Skrjabins Symphonie Nr. 2 anzumerken
war. Sechs Tage später lieferte das von Gerd Ruge begrüßte
und von Arvo Volmer geleitete Symphonieorchester der Estnischen
Musikakademie lehrreiche und genussvolle Exempel für die kulturelle
Auseinandersetzung mit dem russischen Nachbarn. So hob es in der
9. Symphonie von Schostakowitsch die kritischen Momente hervor.
Die 1959 entstandene Ouvertüre Nr. 2 von Veljo Tormis begann
in direkter Schostakowitsch-Nachfolge und ersetzte dann die vorwärtsdrängende
Motorik durch bedrohliche Töne. Mehr Enthusiasmus erlaubte
sich Eduard Tubin 1944/45 in seinem im schwedischen Exil entstandenen
Concertino für Klavier und Orchester, während Toivo Tulev
– ähnlich wie der seit Jahren in Berlin lebende Este
Arvo Pärt – alle gesellschaftlichen Bezüge verweigert.
Sein neues Stück „Amber“ will lediglich einen verführerischen
Duft in Klang verwandeln, was ihm charmant gelang. Die Idee dazu
erhielt er am anderen Ende Europas: im marokkanischen Fez.
Das traditionsreichste Orchester hatte den weitesten Weg zurückgelegt
und war zugleich das unbekannteste. Nach ihrem exzellenten Konzert
war das Symphonieorchester der Tschaikowsky Musikakademie Kiew aber
in aller Munde. Obwohl die jungen Musiker auf ihrer langen Reise
im Bus übernachtet hatten, um Geld zu sparen, boten sie am
Abend unter der Leitung des erfahrenen, an Celibidache erinnernden
Roman Kofman (demnächst Orchesterchef in Bonn) eine professionelle
Leistung, die die vielen Katastrophenmeldungen, die in jüngster
Zeit aus der Ukraine kamen, vergessen machte. In der klugen Zusammenarbeit
Kofmans mit dem jungen Pianisten Michail Dantchenko ertrank sogar
Rachmaninoffs Drittes Klavierkonzert nicht in Pathos, sondern wurde
schlüssig entwickelt. Die an diesem Abend uraufgeführte
Sechste Symphonie von Valentin Silvestrov zeigte den häufig
der Neoromantik zugeordneten Komponisten von einer kühnen Seite.
Das Werk begann mit verstörenden Dissonanzen und atemlosem
Wechsel von drängenden Auftakten und nachfolgendem Tempostau
– gleichsam als auskomponierte Frustration. Der permanente
Tempowechsel, der von den Musikern höchste Konzentration verlangt,
erhielt durch Verlangsamung allmählich den Charakter eines
traumhaften Pulsierens, während sich die Dissonanzen in obertonreiche
Klangfelder auflösten. Faszinierend setzten sich dabei etwa
Klavierlinien in Flageoletttönen fort und vermählte sich
systematische Strenge mit Klangpoesie. Der Komponist konnte den
starken Beifall für die Symphonie persönlich entgegennehmen.
Nicht weniger als zehn Uraufführungen und sieben deutsche
Erstaufführungen hatte man an diesen Tagen erleben können.
Unter den Uraufführungen besaß die Silvestrov-Symphonie
das stärkste Gewicht, gefolgt von den Beiträgen von Senderovas
und Tulev. Wenn sich unter den präsentierten Werken auch provinzielle
Leichtgewichte befanden, trugen doch auch sie zum Farbreichtum bei.
Es dürfte wenige deutsche Hochschulorchester geben, die mit
dem Standard der Balten mithalten können. Und im Vergleich
zum Wagemut der Spanier oder Ukrainer wirkte der deutsche Beitrag
geradezu konservativ. Dabei fehlt es Gerd Albrecht, der beim Schlusskonzert
am Pult des Bundesjugendorchesters stand, gewiss nicht an Erfahrung
mit Neuer Musik. Die jungen Musiker begannen ausgesprochen voluminös
und altmeisterlich mit dem „Meistersinger“-Vorspiel
und endeten klassisch mit Beethovens Siebter.
Den Auftritten der etwa 2.000 Musiker aus 15 Nationen lauschten
insgesamt 20.000 Besucher, deutlich mehr als in den beiden Vorjahren.
Sie hatten sich durch Neues, Unbekanntes, anziehen lassen und waren
oft zu enthusiastischen Stammgästen geworden. Die Hauptstadt,
deren leere Kassen die Finanzierung eines eigenen Landesjugendorchesters
nicht mehr erlauben, hat mit diesem von einem privaten Freundeskreis
gestarteten Festival erneut ein großes, gewichtiges Geschenk
erhalten.