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nmz-archiv
nmz 2002/09 | Seite 39
51. Jahrgang | September
Oper & Konzert
Die Klippe des Mythos umschifft
Hans Werner Henzes Zehnte Sinfonie erklang in Luzern und Lübeck
„Wer über die Neunte hinaus will, muss fort,“
raunte einst Arnold Schönberg am Grabe Gustav Mahlers. Seit
Beethoven mit seiner Neunten sein sinfonisches Œuvre abschloss,
gab es den Mythos der Neunzahl; heute eine eher anekdotische Größe.
Als der Schweizer Kunstmäzen Paul Sacher 1997 in Berlin Hans
Werner Henze nach der Uraufführung von dessen Neunter diesen
aufforderte, doch gleich mit einer nächsten zu beginnen, war
der Mythos nur noch augenzwinkernd gegenwärtig. Und Henze selbst,
jeglichem Mystizismus abhold, ließ sich gemächlich Zeit
für seine Zehnte, die 1998-99 entstand und dann sogar noch
drei Jahre in der Schublade lag, bis endlich nun, am 17. August
in Luzern, die Uraufführung stattfand, der einen Tag später,
im Rahmen des Schleswig Holstein Musik Festivals, die Deutsche Erstaufführung
in der Lübecker Musik- und Kongresshalle folgte. Beide Male
mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra unter Sir Simon Rattle.
Rattle kann auch als zweiter „Geburtshelfer“ des Werkes
gelten, hatte er doch Henze um ein Werk für sich und sein Orchester
aus Birmingham gebeten. „Sogleich“ erinnert sich Henze
„hörte ich Kristallenes und Klares und Englisches in
meinem inneren Ohr.“
Dass Henzes Zehnte dann ein „klassischer“ Viersätzer
wurde, hat allerdings mit der Tradition der Gattung nur noch bedingt
etwas zu tun. Statt der von Brahms herrührenden und von Schönberg
gerühmten „entwickelnden Variation“ des Formaufbaus
finden sich hier sehr subjektive und in sich unterschiedene, aber
jeweils auf eigene Weise doch auch streng strukturierte imaginäre
Theaterszenen, was die Titel der Sätze „Ein Sturm“,
„Ein Hymnus“, „Ein Tanz“ und „Ein
Traum“ schon andeuten.
Das groß besetzte Orchester entfaltet im ersten Satz ein
weiträumiges Bild gegensätzlicher „Lebensstürme“,
die aber nicht so sehr spektakulär nach außen gewendet
erscheinen als vielmehr reflektiert und im Rückblick des „sinfonischen
Helden“ gemildert und die auch am Ende elegisch verhallen,
ein Decrescendo, das sich in allen anderen Sätzen wiederfindet.
Der „Hymnus“, nur für ein vielfach geteiltes Streichorchester,
evoziert mit seinem teils süffigen, teils auftürmend-drängenden
Klang wohl ein wenig das berühmte „Adagietto“ aus
Mahlers Fünfter, aber in der dunkel grundierten Harmonik durchaus
auch die brütenden Stimmungen aus „Central Park in the
Dark“ von Charles Ives. Exzessiv, mal lustig, mal diabolisch
wild, dann „Ein Tanz“, nur für Blechbläser,
Schlagzeug und Kontrabässe, und auch hier drängt sich
als Parallele ein Werk von Mahler auf: die hintersinnige, in einem
dämonischen Totentanz endende „Burleske“ aus dessen
Neunter Sinfonie.
„Ein Traum“ beginnt dann eher düster, entfaltet
sich dann zu beschwörender Klang-Opulenz, zu lebenssüchtiger
Konkretheit, die jedoch etwas Retrospektives an sich hat, gleichwohl
aber nicht bei beschönigender Altersweisheit stehenbleibt:
der Schluss, auch hier ein langsames Ausblenden der verschiedenen
Instrumentengruppen, erscheint als fragende Ungewissheit, die das
Nachdenken fordert.
Henzes Zehnte bietet keine platte „Lösung“ oder
gar Erlösung an – die imaginäre Szene bricht gleichsam
im Dialog ab. Dennoch ist das Konzept schlüssig, denn Henze
weiß genau, was und wieviel sein klanglich-strukturelles Material
hergibt, und er formt alle Sätze des knapp 40-minütigen
Werkes wohlproportioniert und nachvollziehbar. Innovativ ist ein
solches Werk nicht so sehr im äußeren Gesamteindruck
als vielmehr in kleinen, akkurat ausgehörten und blendend formulierten
und instrumentierten Details. Gerade das sind aber die Qualitäten
dessen, was man gemeinhin als „Alterswerk“ bezeichnet.