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nmz 2002/09 | Seite 58-60
51. Jahrgang | September
Dossier: 50 Jahre VdM & Geschichte
der Kulturverbände
Historie und Zukunft der Kulturverbände
Ein Gespräch zwischen Theo Geißler, Bruno Tetzner
und Olaf Zimmermann
Im Nachkriegsdeutschland war Bruno Tetzner (80) maßgeblich
am Aufbau des Deutschen Musikrates beteiligt und gehörte in
den 80er-Jahren zu den Gründern des Deutschen Kulturrates.
Fast zwanzig Jahre gehörte der studierte Kirchenmusiker Tetzner
dem Sprecherrat des Deutschen Kulturrates an. Er vertrat zunächst
den Rat für Soziokultur, später den Deutschen Musikrat.
Tetzner, der bis heute persönliches Mitglied des Musikrates
ist, war Mitinitiator des Konzeptes der Landesmusikräte, Leiter
der Satzungs- und Strukturkommission zur Strukturreform des DMR,
dreißig Jahre Mitglied des Planungs- und Verwaltungsbeirates,
sowie Initiator zur Gründung und Aufbau des Landesmusikrates
Nordrheinwestfalen. Seit der Gründung desselben war Tetzner
zwanzig Jahre Vizepräsident sowie Vorsitzender der Sektion
„AG Musik in der Jugend“. Vierzig Jahre war er als Vorsitzender
am Auf- und Ausbau der Landesarbeitsgemeinschaft Musik NRW zum größten
Organisationsverbund der außerschulischen Jugendbildung in
NRW beteiligt. Vor fünfzig Jahren war Bruno Tetzner Mitgründer
des heutigen VdM. Der Kunsthändler, Galerist und Journalist
Olaf Zimmermann (41) ist seit 1997 Geschäftsführer des
Deutschen Kulturrates und zählt Bruno Tetzner bis heute zu
seinen wichtigen Ratgebern. Zimmermann ist weiterhin Mitglied der
Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags „Zukunft des Bürgerlichen
Engagements”, sowie Leiter der Arbeitsgruppe Kunst und Kultur
des Forums Informationsgesellschaft des Bundesministeriums für
Wirtschaft und Technologie. Mit Bruno Tetzner und Olaf Zimmermann
führte Chefredakteur Theo Geißler in Bonn ein Gespräch
über die Historie und die Zukunft der deutschen Kulturverbände.
Kulturpolitischer Diskurs
zu dritt im Bonner Haus der Kultur (v.li.): Theo Geißler,
Olaf Zimmermann, Bruno Tetzner. Foto: Gabriele Schulz
Theo Geißler: Fangen wir sozusagen beim „ground
zero” des deutschen Kulturlebens im letzten Jahrhundert an,
in der Zeit zwischen 1945, 1950 und 1952. Man hatte das Gefühl,
dass die Theater schneller wieder aufgebaut waren als die Schulen;
man hatte das Gefühl, dass die Orchester eher wieder funktionierten
als die Kindergärten, stimmt das? Bruno Tetzner: In der damaligen Zeit war nach der Phase des
Nationalsozialismus ein großer Bedarf nach neuem kulturellem
Leben, neuem Denken vorhanden. Trotz aller Armut, trotz der unglaublichen
Entbehrungen bestand der Wunsch, Kultur neu zu erfahren. Ich kann
mich noch sehr genau erinnern, dass damals Theater und bald auch
Orchester-Konzerte in Werkskantinen, Fabrikhallen und Straßenbahndepots
stattfanden. Der Wunsch, ins Konzert zu gehen, war unglaublich groß
und es ist heute nicht mehr vorstellbar, mit welchen Anstrengungen
es verbunden war.
Der Aufbau der Musikverbände vollzog sich relativ langsam.
In den 50er- Jahren waren es die herausragenden Persönlichkeiten
des neuen Musiklebens, die zum Auf- und Ausbau der Musikverbände
wesentlich beitrugen. Die Entwicklung der Verbandsstrukturen war
daher zunächst stark persönlichkeitsgebunden, im Unterschied
zu jetzt. Heute sind die Infrastrukturen stark und stabil, so dass
die Zusammensetzung der Vorstände problemlos variieren kann.
Geißler: Einer der ersten Verbände, die gegründet
wurden, war 1952 der Verband deutscher Musikschulen. Woher kam der
Bedarf nach einem solchen Verband? Tetzner: Hier muss man zurückgehen auf die Jugendmusik,
die Jugend(sing)bewegung aus der Zeit vor den beiden Weltkriegen,
die zwar durch den Nationalsozialismus sehr verfälscht wurde
aber geprägt war von Persönlichkeiten wie Fritz Jöde,
Carl Orff, Wilhelm Twittenhoff und anderen Sie griffen Gedanken
der Jugend- und Volksmusik wieder auf und knüpften an die 20er-
und 30er-Jahre an, wo man bereits begonnen hatte Jugend- und Volksmusikschulen
einzurichten, weil – so lautete damals die Begründung
– die Bildungs- und Ausbildungsstätten der damaligen
Zeit nicht mehr dem Bedarf der Jugendlichen entsprächen. So
fanden sich ja vor genau 50 Jahren 13 Initiatoren zum Aufbau von
Jugendmusikschulen in Deutschland zusammen und schufen den Vorläufer
des heutigen Verbandes deutscher Musikschulen. Hier ging es zunächst
zwar um einen Erfahrungsaustausch und es standen viele strukturelle
und organisatorische Fragen im Vordergrund wie „Kommunaler
oder privater Träger?“, „Wie findet man geeignete
Lehrer?“, „Wie sammelt man Schulgeld ein?“, „Wie
weit kann Schulgeld die Gesamtkosten decken?“. Man kann sich
heute die damalige Situation kaum vorstellen: Im Zentrum der Arbeit
stand das gemeinsame Singen; Blockflöten und Fideln waren Einstiegsinstrumente;
Klavierlehrer lernten Blockflöte. – Die 13 Initiativen
verbanden sich zu einem ersten, sehr weitmaschigen Netz und verabredeten,
den Jugendmusikschulgedanken weiterzutragen. Das war anfänglich
nicht leicht, denn selbst die existierenden „Jugendmusikschulen“
waren in ihren Profilen sehr unterschiedlich. Daher war es kaum
vermittelbar, Stadtverordneten die Bedeutung einer Jugendmusikschule
für das künftige Musikleben einer Gemeinde zu erklären.
Deshalb entwickelten wir in den 50er-Jahren ein Modellprojekt, um
in Zusammenarbeit mit dem Sozialministerium Nordrhein-Westfalen
(das Kulturministerium hatte noch gar keine Antenne dafür)
Geld bereitzustellen, um fünf bis sechs Schulen in Nordrhein-Westfalen
so auszustatten, dass sie als Musikschulen erkennbar wurden. Dieses
Projekt war so erfolgreich, dass es eine Kettenreaktion auslöste
und der Verband kaum mit den erforderlichen Beratungen zur Errichtung
von Musikschulen mithalten konnte. Die Musikschulen hatten ihren
gesellschaftlichen Auftrag gefunden und definiert und konnten nun
ihre musikpädagogischen Aufgaben zunehmend wahrnehmen.
Geißler: Den Begriff Kulturpolitik gab es damals
noch gar nicht. Trotzdem wurden Sie 1952 schon in ein Kulturgremium,
ein Musikgremium des Landes Nordrhein-Westfalen berufen. Sie haben
zunächst einen starken Akzent auf den musikalischen Bereich
gesetzt, aber sehr bald über die Musik hinaus alle Künste
zu erfassen gesucht. War das die Grundidee für die Akademie
Remscheid? Tetzner: Es war eine Wechselwirkung. Ich war Musiker und
hatte Interesse, die musikalische Basis unseres Landes zu stabilisieren,
zu entfalten und zu qualifizieren. Hierfür waren zum einen
die Musikschulen das ideale, inzwischen flächendeckende Instrumentarium,
zum anderen aber auch immer mehr Musikensembles mit unterschiedlichen
Musikfarben. Parallel dazu begannen wir auf Bundesebene, wo es die
AGMM als Vorform des heutigen Musikrates gab, nach einer Einrichtung
zu streben, in der ehren- und nebenamtliche Leiter von kulturellen
Gruppen weiter qualifiziert wurden.
So wurden erstmalig in die Planungsgruppe auch Vertreter der Laienmusiker,
Tänzer und handwerklich-bildnerisch Tätige eingeladen
und so entstand 1956 das Konzept der Musischen Bildungsstätte
Remscheid mit einem breiten künstlerischen Bildungsspektrum.
Die 45 Jahrespläne der heutigen Akademie Remscheid vermitteln
sehr anschaulich die zum Teil tief greifenden Wandlungen kultureller
Jugendbildung.
Emanzipation der Laien
Geißler: Wenn sich Künstler zusammentaten, haben
sie früher eher eine berufsständische Organisation gegründet,
um ihre eigene Berufspolitik, ihren Stand zu festigen und dann taten
sich eben die Musiker, die bildenden Künstler oder die Literaten
jeweils für sich zusammen, aus egoistischen oder eigenwilligen
Interessen. Das war noch keine Kultur- oder Bildungspolitik. Wann
hat sich das entwickelt? Tetzner: In den 50er-Jahren haben sich zwar nach und nach
die Berufsständischen zusammengeschlossen, aber sie waren eher
introvertiert und in der Außenkommunikation zum Teil unsicher
(zum Beispiel bestanden zur Zeit der Entstehung des Musikschulverbandes
große existenzielle Ängste bei den privaten Musikerziehern
und Irritationen bei Schulmusikern, die zu überwinden waren).
Die Musische Bildungsstätte Remscheid sollte die Arbeit der
Laien, der Amateure fördern: Laienspiel, Laientanz, Werken.
Wie sich ihre Arbeit sehr bald und radikal änderte in Richtung
einer modernen Ästhetischen Bildung, kann hier nicht weiter
ausgeführt werden. Damals war der Abstand zwischen den Arbeitszielen
der Laien und den Beruflich-Professionellen unglaublich weit. Erst
sehr viel später wuchsen diese Bereiche näher zusammen;
in der Musik geschah dies etwa, als in den 60er-Jahren die Musikschulen
die Pfade der Jugendmusikbewegung verließen und sich die Musiktraditionen
erschlossen, wofür entsprechende Lehrkräfte gebraucht
wurden, was wiederum Druck auf die Hochschulen ausübte, entsprechende
Musiklehrer auszubilden. Als der Deutsche Musikrat gegründet
wurde, war noch eine eigentümliche Diskrepanz vorhanden: Die
„Sprachlosigkeit der Laienverbände“, die zwar den
Großteil der aktiv Musizierenden vertraten, aber nicht angemessen
in der Lage waren, ihre Bedürfnisse und Interessen zu artikulieren,
standen im Gegensatz zur politisch-verbalen Perfektion der Professionellen.
Ich habe damals sehr darunter gelitten und wiederholt interveniert.
Ich bin aber glücklich, dass die Laienmusiker heute ein starkes,
gesundes und legitimes Selbstbewusstsein haben und ich kann nur
raten, dass Dachorganisationen – welcher Art auch immer –
die Laien, besser gesagt die Amateure, mehr beachten, weil sie eine
wichtige Basis unserer (Musik-)Kultur darstellen.
Geißler: Basierend auf dem Schulmusikerverband nach
dem Krieg hat sich der Deutsche Musikrat als einer der ersten geordneten
Kunst-Lobby-Verbände etabliert. Wem gegenüber wollte man
die Sache der Musik vertreten? Der Politik gegenüber? Tetzner: Wir haben uns für den Aufbau von Infrastrukturen
engagiert, weil wir vom Ansatz ausgingen, dass in einer repräsentativen
Demokratie das, was nicht repräsentativ ist, nicht wahrgenommen
wird und nicht dialogfähig ist und somit einen schweren Stand
hat. Von gleicher Wichtigkeit war uns aber auch, dass durch die
Schaffung des Deutschen Musikrates fachliche Binnenkommunikationen
möglich wurden. Hierdurch sind die vielen Impulse, Konzepte
und Projekte entstanden, die in den vergangenen Jahrzehnten unser
Musikleben so nachhaltig dynamisiert haben!
Modell Musikrat
Geißler: Die anderen Künste haben ja eine Zeit
lang neidisch auf den Musikbereich geguckt. Den Bund Deutscher Kunsterzieher
(BDK) gab es zwar schon lange, auch den Deutschen Journalisten-Verband
(DJV), aber politisch waren zuallererst die Musiker aktiv. Sie haben
das Musikschulsystem stabilisiert, haben bestimmte Maßnahmen
ins Leben gerufen, zum Beispiel „Jugend musiziert”,
was zur politischen Befestigung geführt hat. Wer kam auf die
Idee, diese verschiedenen Kunstgruppierungen zusammenzuführen?
Tetzner: Der Deutsche Musikrat und die Substrukturen waren
ein gutes, nachahmenswertes Modell. Wir stießen damit auch
andere Fachbereiche an, um das, was bei den Musikern u umöglich
war, auch in anderen Fachbereichen zu versuchen. Ich empfinde es
heute noch als Defizit, dass ein wichtiger Bereich wie der Tanz
im Deutschen Kulturrat – aus, pointiert gesagt, egoistischen
Gründen – nicht eine eigene Sektion ist. Von der Zusammensetzung
könnte er sogar größer sein als manch andere Sektion.
Curt Sachs, der große Musikwissenschaftler, sagte: „Der
Tanz ist der Ursprung aller Künste.” Es ist ein Fehler,
wenn man ihn unter „darstellende Künste” summiert
und nicht die Vielfalt von Tanz bündelt. In der Folge sind
viele Bereiche, die zum Tanz gehören zum Sport hin abgewandert,
spätestens seit der Aerobicwelle.
Gebündelte Fachkompetenz
Geißler: Beim Deutschen Musikrat war seinerzeit der
Ruf nach einem Deutschen Kulturrat gar nicht so laut. Man sagte:
„Wir stehen ganz gut da, brauchen wir denn so was?” Tetzner: Der Vorbehalt war verständlich und ich erlebte
es auch in Nordrhein-Westfalen, als der Landeskulturrat ins Gespräch
kam. Das ist verständlich. Man hatte sich im Musikbereich zusammengefunden
mit einer stabilen Innen- und Außenkommunikation und musste
sich nun auf etwas Neues einstellen; die Sorge, finanziell oder
in der öffentlichen Aufmerksamkeit etwas teilen zu müssen,
ist verständlich.
Geißler: Was war denn der Nukleus für die Gründung
des Kulturrates? Tetzner: Die Entwicklung seit den 50er/60er-Jahren, in der
es erst einmal darum ging, Dialogfähigkeit und Artikulationsfähigkeit
nach innen zu entwickeln, sich überhaupt kennen und schätzen
zu lernen, war weitgehend abgeschlossen. Die Kultusministerkonferenz
und die beginnende Diskussion um die Kulturhoheit der Länder
sorgten für immer mehr Nachdenken in der kulturpolitischen
Diskussion. So entstand die Frage: Wenn wir mit dem Kultusministerium,
mit der Kultusministerkonferenz ins Gespräch kommen, reichen
einzelne Kunstbereiche nicht aus, sondern wir brauchen die gesamte
Breite. Das war das Konzept bei der Gründung des Deutschen
Kulturrats: die Bündelung der in den unterschiedlichen Sektionen
vereinten Fachkompetenzen.
Geißler: Man hat den Eindruck, dass mit Andreas Johannes
Wiesand und Karla Fohrbeck zwei Kulturwissenschaftler und Soziologen
das Ruder übernahmen. Tetzner: Beide kamen aus ihrer beruflichen Tätigkeit,
dem Spiegel-Institut für Projektstudien, und hatten einen großen
Horizont. Das war für uns eine wichtige Hilfe, weil sie aus
dieser großen Weltsicht heraus uns ermutigten, die Basis des
Deutschen Kulturrats breit anzulegen. Die literarischen Ergebnisse
waren immer Untersuchungen, Sammelbände, kulturelle Bildung,
alles notwendige Schritte, um im Bewusstsein der Mitglieder eine
geistige Plattform zu schaffen, auf der sie dann arbeiten konnten.
Geißler: Hatte man nicht Angst, das Ganze könnte
etwas papieren oder lebensfremd wirken? Tetzner: Das kann ich deshalb nicht bestätigen, weil
die meisten Mitglieder im Kulturrat zwar aktive „Macher”
waren, aber eher Künstler als Funktionäre.
Hochkultur und Bildung
Geißler: Welche Rolle spielte es, dass Kultur sich
ab den 60er-, frühen 70er-Jahren zunehmend politisiert, politisch
geäußert hat? War das eher hinderlich bei der Beförderung
des Kulturrates oder war es eine Hilfe? Tetzner: Das hängt mit der allgemeinen Politisierung
der Gesellschaft ab den 60er-Jahren zusammen. Im Bereich der kulturellen
Jugendbildung wurde der politischen Bildung eine Priorität
in der Förderung und bei der Gewichtung von Bildungsmaßnahmen
eingeräumt. Damit wir überhaupt dialogfähig blieben,
sagten wir zum Beispiel: „Kulturelle Bildung ist politische
Bildung mit anderen Mitteln.“ Man musste sich in den allgemeinen
politischen Dialog einklinken und war gezwungen, sich in Formulierungen
und Denkkategorien einzumischen, ohne die Ziele der kulturellen
Bildung einzuschränken oder aufzugeben.
Geißler: Gab es ein Spannungsfeld zwischen „Hochkultur“
und der kulturellen Bildung, wie Sie sie beschrieben haben? Haben
diese beiden Bereiche völlig aneinander vorbei existiert? Tetzner: Ein solches Spannungsfeld ist notwendig und es ist
unsere Aufgabe, es fruchtbar zu gestalten. Gerade in der heutigen
Zeit, die in fast allen Bereichen eine Abwehrposition, was Kultur,
Gesellschaft und Kommunikation betrifft, verlangt, brauchen wir
die Professionalität der Künstler in allen Bereichen auch
zur Weiterentwicklung elementarer Basisarbeit. Im Deutschen Musikrat
haben wir schon früh diese Durchlässigkeit ermöglicht.
Heute werden Kinder und Jugendliche durch Medien und Umwelt so stark
geprägt, dass sie einen anderen Sozialisationsweg durchschreiten
als die mittlere und ältere Generation. Die Bildungsreform
der 70er-Jahre hat manch gute Entwicklung unterstützt. Aber
wir stehen heute vor neuen He-rausforderungen. Hierzu nur zwei Beispiele:
Erstes Beispiel: 1964 verfasste der Deutsche Musikrat eine Denkschrift
„Gefahren für das deutsche Musikleben und Wege zu ihrer
Überwindung“. Wenn man sie heute liest, ist man verblüfft,
wie der Musikrat mit seinen Mitgliedern – ich möchte
sagen – aus eigener Kompetenz diese Gefahren längst behoben
und in produktiv gestaltetes dynamisches Musikleben umgestaltet
hat bis auf zwei Punkte: „Musik in der Schule“ und „Musik
in der Lehrerbildung“. Nun hat es aber in diesen Jahrzehnten
bis in die Gegenwart nicht an uneingeschränkter Zustimmung
der Politiker (bis zum Bundespräsidenten) und Ministerien für
einen Musikunterricht in allen Schulgattungen gemangelt. Dennoch:
die Schulmusik(er) sind heute in ungleich schwierigerer Situation
und wir dürfen sie nicht allein lassen! Ich meine, dass die
Anstrengungen des Musikrates und seiner Mitglieder gerade jetzt
hier gefordert sind, zu einer Klimaverbesserung beizutragen und
etwa die Ausbildungsstätten darin zu unterstützen, dass
die Studenten für die heutigen Erfordernisse an „Musik
in der Schule“ besser qualifiziert sind und umfassende Fort-
und Weiterbildungen angeboten werden. Das können wir, wenn
wir es wirklich wollen, selbst zuwege bringen.
Zweites Beispiel: Am 12. Februar 2000 hat das Präsidium des
Deutschen Musikrates ein „Memorandum zur Ausbildung für
musikpädagogische Berufe“ – ein sehr lesens- und
empfehlenswertes Papier – verabschiedet. Am 10. Januar 2002
hat die KMK dem Deutschen Musikrat wohlwollend geantwortet, und
das Schreiben schließt: „Die Ländervertreter sind
daher übereingekommen, den Musikhochschulen das Memorandum
des Deutschen Musikrates mit der Empfehlung zuzuleiten, die darin
enthaltenen Vorschläge in die aktuellen Diskussionen zur Studienreform
einzubeziehen“. Damit ist der Ball wieder beim Absender. Denn
die Musikhochschulen sind ja im Deutschen Musikrat nicht nur vertreten,
sondern ihre Vertreter haben maßgeblich an dem Memorandum
mitgewirkt. – Was läuft da falsch? Verlagern wir die
notwendige eigene Anstrengung zu Veränderungen auf Erwartungen
nicht einfach an die Politik? – In die gleiche Richtung zielt
auch die Resolution der ADC vom 28. März 2002. – Wir
können und müssen Forderungen zu Veränderungen in
erster Linie an uns selbst richten und sie selbst auch konsequent
umsetzen.
Hier müsste kultur- und musikpolitisch gearbeitet werden; alle
Institutionen der Aus- und Fortbildung sind im Deutschen Musikrat
konzentriert. Wir können innerverbandlich viele Probleme lösen,
das ist auch unser gesellschaftlicher Auftrag. Alle finanziellen
und personellen Ressourcen, auch Stiftungen, müssten sich dann
einmal auf solche Schwerpunkte einschwören. Hier wird sich
erweisen, ob ein Zusammenschluss wie der Deutsche Musikrat wie in
früheren Jahrzehnten Probleme erkennt und selbst auch kraftvoll
zu übergreifenden Lösungen führen kann oder ob er
sich weiterhin in seinen guten Erfolgen sonnt und es sich ansonsten
nur um eine Addition von Organisationen handelt. Was wir im Deutschen
Musikrat jetzt (wieder) brauchen, sind eine gegenseitige Ermutigung
zur gewollten, eigenen Veränderung, eine gegenseitige Unterstützung
auf den veränderten Wegen, eine Bereitschaft, eigene konzeptionelle,
personelle und finanzielle Ressourcen hierfür einzusetzen,
eine Bereitschaft, die hierfür erforderlichen Anstrengungen
im gegenseitigen Vertrauen einzubringen und zu kooperieren.
Geißler: Sie haben zwei wichtige He-rausforderungen
der Gegenwart dargestellt. Sehen Sie auch neue für die nähere
Zukunft? Tetzner: Wir haben beobachtet, wie die Musikschulen im Laufe
der Zeit ihre Häuser Kindern mit immer früheren Lebensalter
geöffnet haben. Das war wichtig und richtig. Nun vermittelt
uns die Forschung, dass die Fähigkeiten, die es uns ermöglichen,
etwas über die Welt und uns selbst zu lernen, ihren Ursprung
im Säuglingsalter haben. Daher ist es sinnvoll und wichtig,
Kleinkinder schon vom vierten Lebensmonat an mit Musik in vielfältiger
Weise in Berührung zu bringen. – Hier sehe ich eine große
Herausforderung an alle Verantwortlichen unseres Musiklebens. Hier
betreten wir Neuland, denn es kann sich nicht um eine Vorverlagerung
von Musikunterricht handeln. Aus vielen Gesprächen habe ich
abgeleitet, dass wir hier auf eine neue (bisher nicht im Blick gehabte)
und hoch motivierte Zielgruppe treffen: Eltern, die erkannt haben,
dass die Beschäftigung mit Musik in mehrfacher Hinsicht für
die Entwicklung ihres Kindes von Vorteil ist. Einrichtungen unterschiedlicher
Art, darunter auch Musikschulen, die sich diesem Thema öffneten,
konnten sich vor Nachfrage nicht retten. – Die positiven Auswirkungen
auf unsere gesamte Musikerziehung kann man sich leicht vorstellen.
Geißler: Mitte der 80er-Jahre war der Deutsche Kulturrat
noch jung und einer Reihe einschneidender gesellschaftlicher Entwicklungen
ausgesetzt wie zum Beispiel dem Aufkommen der Privatfernsehsender,
der Medien- oder Informationsgesellschaft und der beginnenden Computerisierung.
War der Deutsche Kulturrat damals schon in der Lage, mit gesellschaftlichen
Entwürfen auf diese Entwicklungen zu reagieren? Tetzner: Als die Medienlandschaft sich entfaltete, beschäftigten
wir uns im Kulturrat sehr damit und haben auch interveniert. Es
gab damals zum Beispiel ein Gespräch zwischen dem Sprecherrat
und dem ZDF-Intendanten Stolte, worin wir mehr Kultur, auch in den
aktuellen Sendungen, reklamierten. Stolte war sehr offen und sagte
zu, dass zukünftig jede Nachrichtensendung einen Kulturbeitrag
haben sollte, was in etwa unserer Forderung entsprach. Das hat auch
die ARD positiv beeinflusst. – Der Kulturrat muss aber auch
Neuentwicklungen aufmerksam begleiten und sich zum Beispiel jetzt
auch mit Computerspielen auseinander setzen, die für die junge
Generation essenziell sind und auch von Erwachsenen mittlerweile
als interessant empfunden werden. Die Medien sind Bestandteil unserer
kulturellen Substanz geworden und wenn wir sie übersehen, können
wir nicht unterstützend oder korrigierend eingreifen.
Geißler: Im Musikbereich sind Teile dieser Jugendkultur
fremdsprachig, vor allem englisch oder amerikanisch. Es handelt
sich um eine importierte Kultur. Kommt das daher, dass es uns nach
dem Krieg und bis heute schwer fiel, eine eigene kulturelle Identität
zu entwickeln? Tetzner: Als Kirchenmusiker war mir die Vermittlung in der
Muttersprache immer sehr wichtig. In früheren Jahrzehnten wollte
man anscheinend eine neue Identität auch mit der (englischen)
Sprache herstellen. Für die heutige Generation ist dies Geschichte;
sie findet, dass das Englische dem Gesang andere gestalterische
Möglichkeiten bietet als das Deutsche. Vielleicht wird diese
Entwicklung wieder abklingen.
Regionale Kulturpolitik
Geißler: Sollte der Deutsche Kulturrat dazu beitragen,
nationale Identität zu klären, ohne dabei in chauvinistische
Regionen abzudriften? Olaf Zimmermann: Die Globalisierung und die Bewegung nach
Europa hin haben wir alle als richtig erkannt. Andererseits gibt
es ja auch eine nationale Kultur, die sich vor allem in einem bestimmten
Sprachbereich einbettet. Ich halte es für eine Aufgabe des
Kulturrates, dies bewusst zu machen. Vielleicht sollten wir es wie
die Franzosen machen – mit einer Quotenregelung, dass mehr
deutschsprachige Musik in den Rundfunkanstalten gespielt werden
soll –, jedenfalls wird das Thema Sprache eine große
Rolle spielen. Wenn die eigene Sprache immer mehr zurückgedrängt
wird, verlieren wir Identität und dann muss der Kulturrat handeln.
Tetzner: Künste sind an sich Kommunikationsmedien. Die
Frage der Sprachlichkeit oder der Regionalisierung halte ich aber
nicht für eine künstlerische oder kulturpolitische Frage,
sondern für eine Frage des Sozialverhaltens, des Umdenkens,
des notwendigen Ausgleichs zur Globalisierung, der wirtschaftlichen
und politischen Unsicherheit. Deshalb halte ich die Pflege der regional-spezifischen
kulturellen Ausprägung für wichtig; hier wird Kultur wieder
Binde- und Hilfsmittel für das Sozialgefüge einer Region.
Dass der Kulturrat selbst aber die Landeskulturräte sozusagen
mit spitzen Fingern anfasst und nicht integriert ist ein Fehler.
Hier ist er als Initiator gefordert. Zimmermann: Genau diesen Punkt müssen wir in Zukunft
angehen: die Entwicklung der Landeskulturräte ernst zu nehmen
und eine regionale, landesspezifische Kulturpolitik zu fördern.
Wir werden in Zukunft den Deutschen Kulturrat nicht mehr allein
auf die Bundesebene konzentrieren können, es gibt zwar einen
Landeskulturrat in Nordrhein-Westfalen und einen in Bayern, aber
keine in den anderen Bundesländern. Es ist auch Aufgabe des
Deutschen Kulturrates mitzuhelfen, dass wir in allen Bundesländern
Landeskulturräte bekommen.
Zukunft der Kulturverbände
Geißler: In den 80er-Jahren folgte auf die Zeit der
Politisierung wieder die Zeit der Entpolitisierung; man nennt das
wohl das postmoderne Jahrzehnt, Motto: Alles geht, alles ist möglich.
Da hat es die Kultur ja besonders schwer. Hat es sich der Kulturrat
da leicht gemacht und zu wenig Inhalte geliefert? Zimmermann: In den 70er-Jahren, zeitgleich zur Gründungsphase
des DKR entstanden die Ideen zur „Neuen Kulturpolitik”.
Die „Neue Kulturpolitik” mit dem Impetus „Kultur
für alle” hat sehr viele positive Entwicklungen gebracht,
hat aber ein Problem, das sie auch heute noch mit sich herumträgt,
nämlich, dass sie den Künsten kritisch gegenübersteht.
Das heißt, dass die Künste selbst als Ausdruck von Individuen
dastehen, die obsessiv ihre eigenen Vorstellungen zu verwirklichen
suchen. Das kam in der Idee gar nicht vor, sondern es ging eher
um Sozialisierung von Kultur. In den 80er-Jahren haben sich die
Künste wieder eine stärkere Rolle verschafft; in dieser
Zeit sind viele künstlerische Projekte entstanden. Die Künstler
traten viel stärker nach außen, das sah man besonders
in der bildenden Kunst. Das erste Mal gab es wieder Künstler
aus Deutschland, die weltweit eine Rolle spielten. Dann standen
zwei Bereiche gegeneinander: Die gesellschaftspolitische Vorstellung
von Kulturpolitik und die Künste. Ich glaube, dass sich der
Kulturrat damals eher von den Künsten weg entwickelt hat, mehr
hin zu diesen gesellschaftspolitischen Vorstellungen.
Verhältnis Politik und Kultur
Geißler: Warum hat man sich im Kulturrat von den
Künsten entfernt und sich stärker der Politik zugewandt? Tetzner: Ich konnte diese Spannung nicht so sehr wahrnehmen.
Beim Deutschen Musikrat sind bis ins Präsidium die Komponisten
integriert. Sie sind be- und geachtet und wurden nie infrage gestellt.
In der Gründungsphase des Deutschen Kulturrates waren auch
die bildenden Künstler und die Literaten gestaltend beteiligt
und blieben nicht außen vor. Danach kamen Bereiche der Soziokultur
und der kulturellen Bildung dazu, die vorher gar nicht im Blickfeld
standen. Ich wünsche dem Deutschen Kulturrat, dass einerseits
das Wächteramt oder die Signalfunktion nicht vernachlässigt
werden, andererseits aber kulturelle und kulturpolitische Fragen
weiter aufgegriffen werden. Die können wir nicht dem Lauf der
Dinge oder der kulturell weniger interessierten Öffentlichkeit
überlassen. Hier müssen wir Impulse setzen, es muss die
Bugwelle dieses Schiffes nach außen dringen. Es reicht nicht
aus, Vorhandenes bewahren zu wollen. Ein italienischer Dichter sagte:
„Wenn ich alles behalten will, dann muss ich alles verändern.”
Geißler: Wenn man zurückblickt, kann man sagen,
auch das Verhältnis der Politiker zur Kultur hat sich verändert. Zimmermann: Die Politiker sind näher an die Kultur herangekommen
und auch die Verbände haben sich in den letzten Jahren massiv
verändert. In den 80er-Jahren ging die Kulturfinanzierung erstmals
zurück, bis dahin gab es immer einen Zuwachs und man hatte
sich immer mehr Kultur geleistet. Auf einmal kam man in die Lage,
auswählen zu müssen. Dadurch bekam Kulturpolitik einen
ganz anderen Stellenwert. Parallel dazu wurde von uns gefordert,
Kultur viel kommerzieller zu betrachten. Es entstanden die Kulturwirtschaftsberichte,
man berechnete den Wert der Kultur auch nach seinem ökonomischen
Wert. Früher waren die Vertreter des Kulturrates keine Funktionäre.
Heute sind wir Funktionäre. Es ist eine veränderte berufliche
Ansicht. Man versucht, professionell Interessen wahrzunehmen und
diese vom eigenen Herkommen zu abstrahieren. Als ich vor zirka fünf
Jahren als Geschäftsführer anfing, war eine der ersten
Wunschaktionen, die aus dem Sprecherrat an mich herangetragen wurde,
eine Aktion „Rettet die Kultur”.
Wir haben lange darüber diskutiert und es war meine erste Auseinandersetzung
als Geschäftsführer mit den politischen Gremien des Deutschen
Kulturrates. Ich fand diese Aktion nicht richtig, denn in Wirklichkeit
war gemeint: „Rettet die Kultureinrichtungen”, denn
der Kultur ging es gut. Es sollte ein Hilfeschrei für die Kultureinrichtungen
werden. Heute würde so eine Aktion vom Kulturrat nicht mehr
geplant werden, sondern man würde versuchen, die Bedingungen
zu verbessern, damit es Kultureinrichtungen, Künstlern, Laienverbänden
in den verschiedensten Bereichen besser geht. Das hat auch zu einer
Veränderung in der Politik geführt; die Politiker waren
die Hilferufe nämlich leid, statt dessen wollten sie von uns
auch Antworten haben, weil sie selbst in dem Dilemma sind, dass
sie viel zu wenig zu verteilen haben. Heute gelingt es uns zunehmend,
den Politikern bei der Findung von Kriterien Unterstützung
zu geben. Tetzner: Das Handeln und Gestalten des Deutschen Kulturrates
in der Öffentlichkeit hat sich im Bewusstsein der deutschen
Öffentlichkeit und der Politik positiv gewandelt. Sie erkennen,
dass sich hier eine fachliche Kompetenz einbringt, dass es nicht
nur um Forderungen geht. Das ist wie bei der These des Soziologen
Niklas Luhmann „von den in sich selbst rotierenden Systemen“,
die unabhängig voneinander je nach ihrer eigenen Logik handeln.
Diese Selbststeuerung bewirkt, dass sich zum Beispiel die Wirtschaft
mit dem Problem der Arbeitslosigkeit nicht mehr von der Politik
steuern lässt. All diese Systeme, wie zum Beispiel die Wirtschaft,
sind in sich hochgradig dynamisch. Diese Dynamik haben wir in der
Kulturpolitik nicht mehr oder noch nicht, aber wir brauchen sie
dringend, denn auch die Künste sind ein gesellschaftlich wichtiger
Faktor.
Wir müssen lernen, in unserem eigenen Regelkreis Bildung/Kultur
effiziente Problemlösungen zu finden, Forderungen allein sind
wirkungslos. Das bedeutet auch, dass sich die Dachverbände
wandeln müssen von der Lobby zur Kommunikations- und Vermittlungsagentur.
Wenn in der Kommunikation der unterschiedlichen Systeme Friktionen
entstehen, die uns zu einer Reflexion oder anderen Konzeption zwingen,
müssen wir handeln und gegebenenfalls zu neuen (kulturpolitischen)
Lösungen führen.
Diese Gratwanderung ist oft angstbesetzt, aber es gibt keinen anderen
Weg. Damals wurden die Musikschulen geschaffen, weil die Lehranstalten
nicht mehr adäquat waren. Heute brauchen wir auch diese Sachlichkeit,
um Agentur für Kultur gerecht zu werden.
Geißler: Das hat der Sprecherrat vor gut fünf
Jahren erkannt und er hat daraufhin beschlossen, statt eines Kulturwissenschaftlers
oder eines Soziologen einen Kulturmanager zum „Macher“
des Kulturrates zu machen. Kann man das so sehen, ist das die Begründung
für die Berufung Herrn Zimmermanns? Zimmermann: Heute braucht man überall Kulturmanager.
Zum Beispiel braucht der Leiter eines großen Museums keinen
Museumswissenschaftler, sondern einen Manager, der in der Lage ist,
das Museum zu führen und dessen Botschaften zu vermitteln.
Der war Galerist der bildenden Kunst und hatte die Professionalität
der bildenden Kunst als Standbein und dazu kommen diese anderen
Fähigkeiten: Wir müssen Vermittlungsagenturen sein, nach
innen und nach außen.
Zimmermann: Es fand aber der personelle Umbruch in eine
Zeit hinein statt, in der der Kulturrat erstmals offensiv sagte:
„Wir sind die Lobby für die Kultur.“ Es ist das
erste Mal im Kulturrat gesagt worden (vor meiner Berufung): „Wir
wollen Lobby sein und uns auch mit anderen Spitzenverbänden
vergleichen, zum Beispiel vom Deutschen Sportbund bis zum Bauernverband,
wir wollen unsere Interessen so artikulieren.“ Da wurde der
Kulturrat umgebaut. Kurz vorher gab es die Veränderung zu einem
eingetragenen Verein, es gab die demokratisch legitimierten Strukturen,
die Entscheidungen überhaupt möglich machen, bis hin zur
vorletzten Sprecherratssitzung im Deutschen Kulturrat, bei der das
erste Mal gesagt wurde: „Auch wenn ein einziger Verband sich
gegen eine Resolution stellt, kann er sie nicht mehr aufhalten.“
Das ist ein sehr weit gehender Schritt. Keiner der 200 Verbände
kann mehr sein Veto einlegen und somit die gesamte Arbeit lahm legen.
Der weitere Schritt ist, dass wir als Lobby Interessen vertreten,
aber diese Interessen auch genau überprüfen müssen.
Wir haben ja im Kulturrat die unterschiedlichsten Strukturen aus
allen künstlerischen Bereichen, aber natürlich ist auch
der gesamte Bereich der „Verharrung“ Mitglied und geht
davon aus, auch legitimer Weise, dass der Deutsche Kulturrat ihn
auch in Zukunft unterstützt. Man muss sich nun aber darüber
einigen, wie Kultur in Zukunft aussehen soll, ob die Jugendkultur
einen Platz finden wird, ob die neue Generation einen Ort finden
wird, wo Kunst stattfinden kann, und was wir in Zukunft nicht mehr
machen wollen. Diese Diskussion führen wir über-haupt
nicht. Tetzner: Ich fülle den Begriff Lobby mit einem neuen
Inhalt. Eine Diskussion mit der Politik muss eher partnerschaftlich
sein, und ich glaube, dass die Politik uns ernst nimmt. Sie spürt,
dass wir in der Regel sachimmanent diskutieren, auch mit allen notwendigen
Interessensabwägungen. Das ist viel mehr, als der traditionelle
Lobbyismus beinhaltet.
Geißler: An die Stelle des Lobbyismus soll im Kulturrat
ein intelligenter Agenturgedanke treten? Zimmermann: Man muss Leute langfristig überzeugen, Konzepte
vorlegen, aber auch zum Klinkenputzen bereit sein. Letzteres ist
nichts Unehrenhaftes, sondern es gehört zur Demokratie, dass
man seine Interessen einbringt. Der Lobbyismus muss sich darin erweitern,
besonders bei einem Spitzenverband wie dem Deutschen Kulturrat,
dass er auch innerhalb seiner Strukturen Kriterien findet, was er
wie nach außen geben will, was in der Zukunft sinnvoll und
förderungswürdig ist und was nicht. Bisher ist der Deutsche
Kulturrat den Weg des geringsten Widerstandes gegangen. Wir haben
uns darauf verständigt, zum Beispiel im Bereich des Steuerrechtes
oder des Sozialrechtes gemeinsame Forderungen aufzustellen, die
für alle sinnvoll sind und für alle, wenn sie umgesetzt
sind, ein Plus bringen. Mittlerweile können wir nicht mehr
bei allen Forderungen, die wir aufstellen, garantieren, ob sie wirklich
für alle ein Plus bringen. Es kann nicht sein, dass wir, wenn
solche Gegensätze auftreten, uns im Kulturrat mit dem jeweiligen
Thema dann gar nicht mehr beschäftigen. Wir müssen zu
einer Ideenagentur im eigenen Umfeld werden, bevor wir mit dem Finger
auf andere zeigen und sie zur Problemlösung auffordern.
Sprung in die Professionalität
Geißler: Dazu gehört viel Professionalität,
hohe Kompetenz und Intelligenz. Bei den Verbandsstrukturen unserer
Kulturverbände handelt es sich ja weitgehend um ehrenamtliche
Verbände. Schaffen die den Sprung in die Professionalität? Tetzner: Es hieße, Lobby falsch zu verstehen, wenn
die Interessen eines Verbandes unreflektiert mit der gesamtgesellschaftlichen
Wirklichkeit durchgesetzt würden. Lobby im positiven Sinne
heißt, für die Sache zu werben, die Sache einzubringen
und in einem Kontext, einem korrigierenden Dialog mit anderen gesamtgesellschaftlichen
Prozessen zu modifizieren. In den 50er-Jahren, als die Musikschulen
aufgebaut wurden, bestand im besten Sinn eine Lobby auf breitester
Basis und unterschiedlichsten Ebenen. Das war überzeugend,
weil man ein überzeugendes Konzept hatte, das in die politische
Landschaft und in den Bedarf passte. Heute haben wir ohne Zweifel
eine viel schwierigere Situation. Beispiel Orchesterfusionen: Es
gab eine Phase, in der die Musikräte große Resolutionen
verabschiedeten und aus gutem Grund auch versuchten, dagegen vorzugehen.
Aber in einer Zeit, in der 200.000 Stellen in der Wirtschaft verschwinden,
ist es sehr schwer vermittelbar, dass 20 oder 50 Orchesterstellen
nicht verloren gehen dürfen. In den 20er-Jahren, als der Tonfilm
aufkam, waren im Dortmunder Bereich 1.000 Filmmusiker plötzlich
arbeitslos. Das heißt, es gibt immer Veränderungen, die
sich auch auf Kunst und Kultur auswirken. Hier wäre unsere
Vermittlungsaufgabe, die Orchester durch neue Präsentationsformen
so attraktiv zu machen, dass sie nicht mehr in Frage gestellt werden.
Zimmermann: Es gibt in Berlin drei Opernhäuser. Nach
Querelen, Einsparungen und Haushaltsproblemen haben sich ihre Intendanten
nach Jahren erstmals an einen Tisch gesetzt und über eine Abstimmung
der Spielpläne gesprochen. Über dieses Entgegenkommen
sind alle in Jubel ausgebrochen, obwohl das in einer Stadt selbstverständlich
sein muss, in der man von der öffentlichen Hand finanziert
wird. Wir in der Agentur müssten einen Diskussionsprozess innerhalb
dieser Strukturen organisieren, um zum Beispiel an den Opernhäusern
in Berlin dahin zu gelangen, dass aus unseren Reihen die kreativen,
umsetzbaren Vorschläge für eine intensive Zusammenarbeit
der drei Opernhäuser kommen, dafür, Einsparungen vorzunehmen
oder bestimmte Projekte nicht mehr getrennt, sondern zusammen zu
verwirklichen, möglicherweise wirklich drei Opernhäuser
unter ein Dach zusammenzubringen. Diese Aufgabe würden Sie
als Agentur sehen, als Aufgabe für den Deutschen Kulturrat? Tetzner: Im Kulturrat und Musikrat muss ein Klima geschaffen
werden, in dem Gruppen in der Lage sind, offen querzudenken und
auch Erfahrungen mit anderen Sektionen auszutauschen. Denn wenn
ein Konzept oder Programm gesellschaftlich nicht (mehr) attraktiv
ist, können selbst auch Orchester und Theater in Frage stehen.
Wir können keine Dinge erhalten, die unsere Gesellschaft nicht
mehr tragen will.
Geißler: Themen wie Künstlersozialversicherung,
Urheberrecht, Ehrenamt – das klingt nicht so spannend. Trotzdem
sind dem Kulturrat in den letzten zwei bis drei Jahren einige Fortschritte
zugunsten der Künstler gelungen. Wurde der neue Umgang mit
den Politikern schon gefunden? Zimmermann: Sicherlich hat der Verbandsbereich sich auf bestimmte
Ideen konzentriert, die er vorher nicht hatte; andererseits hat
sich im politischen Bereich ein Gegenüber gebildet. Heute gibt
es eben Kulturpolitiker im Bundestag; früher waren das Exoten,
die das nebenbei machten und ein bisschen Spaß dabei hatten.
Heute gibt es Menschen, die dafür gewählt wurden, es gibt
Ausschüsse, einen Staatsminister für Kultur und Medien,
einen eigenen Bundestagsausschuss. Man kann Themen besser einbringen
als früher, weil man einen Gesprächspartner hat, der der
Kultur aufgeschlossen ist. Gerade bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen
konnte der Kulturrat in den letzten Jahren soviel erreichen, weil
es in der Politik überhaupt ein Gegenüber, einen Partner
gibt. Das wird noch zunehmen, es wird in Zukunft noch viel mehr
Partner geben, nicht nur auf bundespolitischer Ebene, sondern auch
in den Ländern und innerhalb Europas.
Geißler: Ist die Existenz kompetenter Ansprechpartner
und Strukturen ein Verdienst der Arbeit der Räte und Verbände,
des Kulturrates, war das Ihr Plan? Tetzner: Unsere Erfolge sind eingebettet in das gesamtkulturelle
Klima Deutschlands, das sich positiv verändert hat. Diese positive
Sensibilität für Kultur kann man täglich in den Tageszeitungen
bis hin zu den Nachrichtensendungen erkennen. Die kulturpolitischen
Entwicklungen und ihre Diskussion gehen aber weiter, und wir müssen
darauf achten, dass wir nicht nur reagieren, sondern agieren. Gerade
die Künstler haben die Möglichkeit, visionär zu sein,
und wir müssen immer versuchen manchmal sogar kühn vorauszusehen
und Dinge durchzuspielen, anstatt zaghaft zu fragen: „Wie
geht es weiter?”
Das PISA-Szenario
Geißler: Gegen den Trend der meisten Kulturmenschen,
die ich kenne, sagen Sie, die Zeiten seien besser geworden. Die
PISA-Studie scheint aber doch zu belegen, dass die Bildung in Deutschland
katastrophal einbricht, dass unsere Kinder nichts Brauchbares lernen
und im internationalen Vergleich weit zurückfallen. Ist das
nicht ein Widerspruch zu Ihrem Szenario? Tetzner: Die Defizite, die PISA aufgedeckt hat, sind eindeutig,
und wir könnten sie auch mit der Entwicklung seit der Bildungsreform
der 70er-Jahre erklären. Aber wir haben auch Fehler in der
Kunstpädagogik und Schulmusik gemacht: Ich sehe das als Herausforderung
für den Kulturrat und es reicht nicht, nur zu fordern. Wir
dürfen keine Abwehrhaltung einnehmen „nicht nur mehr
Computer, auch mehr Musik und Kunst muss her!”, sondern wir
müssen das Persönlichkeitsbildende der Künste, der
Kultur mehr herausheben, selbst auch unter Wellness-Aspekten.
Geißler: Sie haben immer wieder in Initiativen gewirkt,
die außerhalb der schulischen Bildung etabliert waren. Wie
das? Tetzner: Schule fand und findet noch überwiegend vormittags
statt. Für den großen Freizeitbereich, nachmittags und
abends, sah ich für Kunst und kulturelle Bildung als persönlichkeitsbildende
Freizeitfaktoren große Chancen. Diese haben die Verbände
der kulturellen Jugendbildung auch sehr erfolgreich mit einer großen
Palette reichhaltiger Angebote ausgestaltet. Leider haben sich aber
manche Träger kultureller Jugendbildung sehr unzureichend auf
die schon seit Jahrzehnten sich abzeichnenden Veränderungen
durch Ganztagsschulen vorbereitet. Zimmermann: Eine der Folgen der PISA-Studie wird sein, dass
die Ganztagsschule eingerichtet wird und die so genannte Freizeit
zurückgeht. Man wird überlegen müssen, ob an den
Nachmittagen klassischer Unterricht nach Lehrplan oder Kultur stattfinden
soll. Musik- und Kunstpädagogen, die sich bisher in der kulturellen
Jugendbildung im Freizeitbereich betätigt haben, empfinden
derzeit die meiste Abwehr, weil sie Angst haben, überflüssig
zu werden. Sie könnten aber auch die Inhalte für die Nachmittage
festlegen, das könnte zu einer ganz neuen Bedeutung dieses
Bereiches führen.
Diskussionskultur entwickeln
Geißler: Das ist eine konkrete Wunschliste für
die künftige Arbeit des Kulturrats. Wie kann sich das auf die
aktuelle Situation auswirken? Zimmermann: Was der Kulturrat leisten muss, ist, dass er
in Zukunft nicht mehr nur das macht, was für alle gleich sinnvoll
und nützlich ist, dass er nicht nur die Forderungen stellt,
von denen alle etwas haben. Wir müssen eine Kultur innerhalb
der eigenen Organisation entwickeln, in der wir uns erlauben, zu
diskutieren, zu “spinnen”, Vorstellungen unter uns zu
entwickeln, ohne dass Panik entsteht. Erst einmal intern, nicht
in der Öffentlichkeit. Alle Projekte zur kulturellen Bildung,
die der Kulturrat in seiner Geschichte gemacht hat, sind ein Findungsprozess
gewesen, hier haben sich die einzelnen Organisationen erst einmal
gefunden, und es war das erste inhaltlich tragfähige Projekt.
Die Ergebnisse einer internen Diskussion müsste der Kulturrat
nach einer gewissen Zeit der Öffentlichkeit zur Verfügung
stellen. Das könnte einer der größten Umbrüche
im Kulturrat werden, weil man das verlässt, was bisher immer
Grundlage war: „Tu immer Gutes, aber tu keinem deiner eigenen
Leute weh!”. Tetzner: Das kann ein sehr schönes Endziel sein. –
Kehren wir zurück in die Gegenwart. In der Bildungsdiskussion
sind wir Partner, ähnlich wie in der Frage Ganztagsschule und
außerschulische Bildung. Es geht nicht um Abwehr, sondern
um das Aufeinander-Zugehen. Der Ruf nach mehr musischen Fächern
in den Schulen ist berechtigt, und wenn wir hier unterstützen
wollen, müssen wir die Interessensunterschiede sehen zwischen
den Musikern, die zwei oder drei Stunden Musikunterricht verlangen,
und den Theatergruppen, die Stunden aus dem Deutschunterricht brauchen,
den Sportlern, die auch tanzen wollen und dem Werkunterricht. Daneben
existieren Vorstellungen, einfach zwei oder drei Stunden „ästhetische
Bildung“ anzubieten. Hier müssen wir uns zusammensetzen
und eine Harmonisierung anstreben.
Geißler: Ist das nicht sehr idealistisch? Lässt
man hier nicht eine Kardinaltugend unserer Zeit, den Egoismus nicht
nur des Individuums, sondern auch der Interessenverbände, in
die unsere Kulturlandschaft eingebettet ist, außer Acht? Tetzner: Ich erinnere: Als die Musikschulen entstanden, hatten
Privatmusiklehrer Angst und Schulmusiker reagierten mit Unverständnis.
Es schien gewagt, dass wir ihnen sagten, sie würden alle davon
profitieren, die Musizierpraxis an den Schulen würde steigen,
und die Privatmusiklehrer würden mehr Schüler und höhere
Unterrichtshonorare haben. – Man muss den Mut haben, Visionen
zu formulieren und Konsens zu schaffen, sonst geht die Gesellschaft
über uns hinweg. Zimmermann: Das ist ein schwieriger Bereich. Im Kulturrat
haben wir innerhalb der verschiedenen Bereiche noch die unterschiedlichen
Lager, von den Vertretern der Beschäftigten, der Gewerkschaften,
bis zu den Arbeitgeberverbänden, und alle haben ganz spezifische
Interessen. Selbst wenn wir eine dringend notwendige Diskussion
wie zum Beispiel über die Zukunft der Kulturfinanzierung der
Städte, Kommunen oder Länder führen wollen, erklären
das viele zum Tabuthema, das nur sie etwas angeht, nur die Gewerkschaften,
die Arbeitgeberverbände, die Träger von Kultureinrichtungen.
Wenn wir nicht darüber reden, wird die Gesellschaft in dieser
Frage über uns hinweggehen und wir werden keine Möglichkeit
der Einflussnahme mehr haben. Wir sehen das schon zum Beispiel in
Brandenburg, wo über die Fusionen und Schließungen von
Theatern und Opernhäusern geklagt wird. Aber wir haben denen
unsere Hilfe auch ganz eindeutig verweigert, denn sie haben immer
wieder um Rat gefragt. Anstatt ihnen zu helfen, haben wir von ihnen
verlangt, alles so zu erhalten, wie es gewesen ist, sonst wären
sie Kulturfeinde. Durch die Not wurden Veränderungen notwendig,
die wir nun bemängeln. In diesem Bereich haben wir jetzt noch
die Chance mitzudiskutieren, uns einzubringen, aber es ist höchste
Zeit. Wir müssen unsere Ratlosigkeit auch zugeben. Die eigenen
Strukturen werden dem aber noch ablehnend gegenüberstehen.
Geißler: Gerade in Zeiten der Not werden die Beharrungskräfte
der Interessenvertreter immer stärker. Mit welchen Argumenten
kann man dem beikommen? Zimmermann: Wir können Orte zur Verfügung stellen,
an denen man diskutieren kann. Wir können ganz unterschiedliche
Bereiche zusammenführen, die dann feststellen werden, dass
sie genau vor den selben Problemen stehen. Wir bemerkten das deutlich,
als wir im Kulturrat mit den ehrenamtlichen Verbänden zusammenarbeiteten,
mit dem deutschen Feuerwehrverband, dem deutschen Sportbund, der
Bundesarbeitsgemeinschaft der Wohlfahrtsverbände, dem Bundesjugendring.
Wir hatten die gleichen Probleme, und jeder hatte schon an einer
bestimmten Ecke angefangen zu denken. Wenn wir die Ideen zusammenwerfen,
kommen wir ein großes Stück weiter. Der deutsche Kulturrat
könnte den Raum für derartige Gespräche zur Verfügung
stellen und eine Moderationsfunktion übernehmen, er kann aber
nur auf die Diskussionsbereitschaft der Verbände hoffen. Ich
glaube, dass sich heute bei allen Verantwortlichen in den Verbänden
die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass Veränderungen notwendig
sind, weil wir sonst die Kontrolle verlieren. Das heißt, um
die Kontrolle zu behalten, wird man aktiv werden müssen. Es
wird eine der Hauptaufgaben der nächsten Jahre werden, unterschiedliche
Plattformen herzustellen, wobei wir aber mit einer gewissen Regionalisierung
vorgehen und die Dinge vor Ort betrachten müssen, anstatt sie
nur abstrakt zu lösen. Überall gibt es unterschiedliche
Voraussetzungen, und deshalb gibt es kein Patentrezept für
ganz Deutschland. Wir müssen zu einer Regionalisierung kommen,
über die Landeskulturräte nachdenken und darüber,
wie man innerhalb der föderalen Struktur mehr zu den Wurzeln
vordringen kann.
Geißler: Es wäre doch auch möglich, dass
beispielsweise der deutsche Musikrat mit seiner starken Organisation
viel stärker als bisher im deutschen Kulturrat aufgeht, organisatorische
Strukturen abstellt und der Gesamtsache dient? Tetzner: Die „Schieflage“ der Strukturen ist
kunstspartenspezifisch. Die Musik hat hohe kommunikative Wirkung
und steht deshalb zum Beispiel bei den Jugendlichen in der Beliebtheit
an erster Stelle, weit vor Sport. Aber nicht die Zahl der Mitglieder
und die Größe der jeweiligen Sparte, sondern die (Binnen-
und Außen-)Kommunikation macht die Qualität des Kulturrats
aus. Zimmermann: Es geht nicht darum, jetzt die großen Umbauten
zu leisten, dafür sind die inhaltlichen Fragen viel zu bedeutend.
Die inhaltlichen Fragen müssen wir mit den heutigen Strukturen
lösen, vorausgesetzt wir schaffen die interne Diskussion. Dafür
brauchen wir keinen Umbau von Strukturen innerhalb des Geflechts
des deutschen Kulturrats.
Geißler: Führt man die Diskussion also erst
einmal intern, sozusagen als Übung? Tetzner: Nicht als Übung, sondern als existenznotwendige
Realität! Erst einmal nach innen, für die Mitglieder.
Geißler: 90 Prozent der Kulturjournalisten, der Verbandsfunktionäre
und der Pädagogen sind bornierte, von Vorurteilen besetzte
Menschen, die noch dazu jede Menge Angst haben, die sich selbst
nicht in Frage stellen lassen und sich deshalb nicht verändern? Tetzner: Man braucht eine Menge Ich-Stärke, um angstfrei
zu diskutieren. Deshalb ist das Klima, in der Diskussionen stattfinden,
so wichtig. Zimmermann: In den letzten Jahren wurde ja auch bewiesen,
dass diejenigen, die diskutiert haben, verloren haben. Ein Beispiel
aus Berlin: Vor eineinhalb Jahren kam es bei den großen Kultureinrichtungen
zu einer heftigen Auseinandersetzung über die Etats. Denjenigen,
die diskutiert, also in diesem Spiel auch etwas angeboten haben,
wurde das, was sie angeboten hatten, auch weggenommen. Diejenigen,
die sich nicht bewegt haben, – man erinnere sich an die Staatsoper
–, haben sogar vom damaligen Staatsminister Michael Naumann
noch einmal 3,5 Millionen Mark oben drauf bekommen. Wir haben viele
Jahre lang gezeigt, dass Bewegungslosigkeit zum Erfolg führt.
Was viele Jahre auch verbandspolitisch eine gute Strategie war,
ist nun gefährlich geworden, und das merken doch auch alle.
Hier bewegt man sich in einem sensiblen Bereich, weswegen man sich
genau überlegen muss, wann man mit den Ergebnissen eines Diskussionsprozesses
an die Öffentlichkeit geht. Hier sollte man erst einmal intern
im Sinne eines „Service” diskutieren, und erst wenn
man sich gemeinsam sicher ist, dass man einen neuen gemeinsamen
Weg gefunden hat, damit an die Öffentlichkeit treten. Tetzner: Die Realität ist hart, manche Institutionen
kommen und gehen. Wir dürfen realistischen Auseinandersetzungen
nicht ausweichen. Um Durststrecken zu überwinden, wird man
auch manchmal improvisieren und mit neuen Denkmodellen handeln müssen.
Abwicklungsopfer GmbH
Zimmermann: Wir haben jahrelang den Umbau von Kulturstrukturen
gefordert, der dann zur Verunsicherung der Kulturstrukturen geführt
hat. Wir forderten neue Steuerungselemente, zum Beispiel GmbHs,
weg von der öffentlichen Hand, wovon ich sehr viel halte.
Aber heute ist es in den Städten so, dass die Strukturen, die
sich vor einigen Jahren mit großem Enthusiasmus in GmbHs umgewandelt
haben, obwohl sie immer noch zu 100 Prozent von der öffentlichen
Hand abhängig sind, jetzt die ersten Abwicklungsopfer sind,
weil sie einfacher abgewickelt werden konnten als Strukturen, die
noch voll eingebunden sind. Strukturen, die vor Jahren dem Dritten
Sektor zugeschlagen wurden, die von Vereinen, Verbänden getragen
werden, weil man es für innerlich besser hält, dass sie
nicht dem Staat direkt zugeordnet sind, sind jetzt die Dummen. Oft
sind es die innovativsten, modernsten, schlanksten Strukturen, die
zuerst zum Opfer fallen, während die großen, unbeweglichen,
verbeamteten Strukturen erhalten bleiben. Hier müssen wir klar
sagen, was wir wollen. Sonst müssen wir unsere Appelle nach
moderneren Strukturen zurücknehmen, weil sie sonst am Ende
zum Nachteil für die Kultur werden.