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nmz-archiv
nmz 2002/09 | Seite 33
51. Jahrgang | September
Deutscher
Tonkünstler Verband
Kunst – ein notwendiges Lebensmittel
Ein Bericht über den Kongress „Menschen brauchen Visionen“
Am 14. und 15. Juni 2002 fand in der Zeche Zollverein Essen der
kulturpolitische Kongress „Menschen brauchen Visionen –
Neue Anforderungen an die kommunale Kulturpolitik“ der Sozialdemokratischen
Gemeinschaft für Kommunalpolitik in der Bundesrepublik Deutschland
e.V. (Bundes-SGK) in Zusammenarbeit mit dem Kulturforum der Sozialdemokratie
statt.
Die Bundes-SGK ist der Zusammenschluss der sozialdemokratischen
Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker in der SPD, die es
sich zur Aufgabe gemacht haben, sozialdemokratische Grundsätze
in der Kommunalpolitik zu verwirklichen. Dies geschieht durch die
Entwicklung von Arbeitshilfen und Empfehlungen für die praktische
Politik, die Interessenvertretung gegenüber dem Bundestag,
dem Bundesrat und der Bundesregierung, die Durchführung von
bundesweiten Fachtagungen, Konferenzen und Seminaren und die Kontaktpflege
zu den kommunalen Spitzenverbänden auf der Bundesebene.
Die Zeche Zollverein im Norden von Essen, von 1932 bis 1986 in
Betrieb, zu ihrer Zeit das modernste Bergwerk Europas und die größte
Zeche im Ruhrgebiet, förderte bis zu 12.000 Tonnen verwertbare
Kohle täglich. Nach der endgültigen Stilllegung baute
man dieses kulturhistorisch bedeutsame Bauwerk – entstanden
1932 nach Plänen der Architekten Fritz Schupp und Martin Kremmer,
unverkennbar vom Bauhaus-Stil inspiriert und mittlerweile zum Weltkulturerbe
der UNESCO erhoben – mit der Gründung der Stiftung Zollverein
im Jahre 1999 zu einem Museum, Tagungs- und Kongresszentrum und
Veranstaltungsort für besondere kulturelle Veranstaltungen
um. Daneben beherbergt die Zeche Zollverein die Probebühne
für das Essener Aaltotheater, das Design-Zentrum NRW, ein Restaurant,
eine Galerie sowie viele kleinere Betriebe und Werkstätten.
Nach der musikalischen Begrüßung durch das Bergbauorchester
Essen eröffnete der Geschäftsführer der Bundes-SGK,
Detlef Raphael, gemeinsam mit dem Kulturdezernenten der Stadt Essen
und Präsidenten der Kulturpolitischen Gesellschaft, Dr. Oliver
Scheytt, den zweitägigen Kongress, zu dem zahlreiche Vertreter
der kommunalen Kulturpolitik und der Künste angereist waren.
Raphael betonte in seiner Eröffnungsrede vor allem die hohe
Bedeutung der Kultur als tragende Säule einer jeden Gesellschaft,
die unter allen Umständen gestärkt werden müsse.
Kultur fördere sowohl Verständnis als auch Toleranz und
stehe im 21. Jahrhundert vor vollkommen neuen Herausforderungen.
Um diese zu meistern, sei man auf die engagierte Diskussionsbeteiligung
der Künstler angewiesen. Der Präsident der Kulturpolitischen
Gesellschaft, Scheytt, formulierte dazu drei konkrete Forderungen
an die Kulturpolitik: 1. Die besondere Berücksichtigung der
aktuellen demografischen Entwicklung mit der Subkultur der Migranten,
2. die Herstellung von Homogenität qualitätssichernder
Art mit einer nachfrageorientierten Ausrichtung und 3. die Akzeptanz
und Integration neuer Kunstproduktionsmöglichkeiten im Bereich
neue Medien und virtuelle Welten.
Nach einem künstlerischen Hochgenuss mit den Virtuosen Rafael
Cortés (Flamenco-Gitarre) und Achmed Bektas (Türkische
Laute und Percussion) beteiligte sich das Plenum in drei themenorientierten
Foren an der Diskussion: Forum „Kulturelle Grundversorgung
als öffentlicher Auftrag“, Forum „Kultur- und Stadtentwicklung
für den öffentlichen Raum“ und Forum „Stellenwert
öffentlicher und privater Partnerschaften in der Kulturförderung“.
Als ein Ergebnis aus der regen Diskussion trat die Aufforderung
an die Künstler hervor, unbedingt aktiv im Gespräch mit
den Kulturvertretern zu bleiben, kooperative Netzwerke zu etablieren
und dabei aktuelle Probleme zur Sprache zu bringen, Interesse bei
den verantwortlichen Politikern zu wecken und keine Reduktion auf
eine „kulturelle Grundversorgung“ zuzulassen, sondern
Mut zu einem neuen politischen Diskurs zu haben und eigene Profile
und Leitbilder zu entwickeln.
Wolfgang Thierse, Präsident des Deutschen Bundestages, stellvertretender
Vorsitzender der SPD und Vorsitzender des Kulturforums der Sozialdemokratie,
betonte die Bedeutung der Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik,
welche in der Entwicklung staatlicher Handlungsprogramme und in
der Etablierung von Beschäftigungs- und Existenzgründungsprogrammen
die Rahmenbedingungen für die Realisierung künstlerischer
Visionen schaffen müsse. Kunst, so Thierse weiter, sei ein
notwendiges „Lebensmittel“ der Gesellschaft und müsse
die Themen der Zeit aufgreifen und sich der politischen Spannung
stellen. Demokratie sei ohne Kunst nicht denkbar, die als Zukunftsvorsorge
der Gesellschaft verstanden werden müsse. Daraus resultiere
auch die Forderung nach kulturell gebildeten Politikern, die sich
im Bereich der Kulturpolitik auf breiter Basis engagieren und die
Auseinandersetzung mit den Künsten fördern müssen.
Scheytt forderte in diesem Kontext von der Kulturpolitik der Zukunft
weiter, dass sie konkret Position beziehen müsse, nicht am
Bestehenden festhalten und nicht bloßes Mittel zum Zweck sein
dürfe. Vielmehr müsse aktive Kulturpolitik als öffentlicher
Auftrag des Staates verstanden werden und als Leitbild fungieren.
Auf Grund der Vielfalt ihrer Funktionen müsse sie Initiative
ergreifen und als Motor der Kultur gesehen werden. Kulturelle Bildung
sei für die Bildung von Allianzen in der Gesellschaft wichtig
und müsse endlich weg vom Modellcharakter. Schließlich
verstärke kulturelle Bildung die Orientierungsmöglichkeit
einer Gesellschaft; den unbezahlbaren Wert der kulturellen Bildung
müsse man endlich erkennen.
Die Aufführung des Films „Metropolis“, begleitet
vom Orchester der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter der Leitung
von Frank Strobel mit der Musik des Bochumer Komponisten Bernd Schultheis,
bildete im Rahmen der Zollverein-Konzerte der Stiftung Zollverein
den kulturellen Höhepunkt des ersten Kongresstages.
Drei weitere Foren boten sich den Teilnehmern am zweiten Veranstaltungstag:
Forum „Kultur und neue Medien – neue Herausforderungen
für die Stadtgesellschaft im Zeitalter der Globalisierung“,
Forum „Kultur und Sport – Potenziale erschließen
und bündeln“ und „Kultur für die Jugend –
Jugendkultur“, die abermals den beteiligten führenden
Politikern den dringend notwendigen Handlungsbedarf aufzeigten.
Den Worten Wolfgang Thierses und Oliver Scheytts schloss sich auch
der Staatsminister im Bundeskanzleramt und Beauftragter der Bundesregierung
für Angelegenheiten der Kultur und Medien, Prof. Dr. Julian
Nida-Rümelin, an und hob vor allem die nunmehr stärkere
Förderung kultureller Einrichtungen besonders in Ostdeutschland
und Berlin, die Verbesserung der Lage der Künstler durch die
Novellierung der Künstlersozialversicherung, die Reform des
Urhebervertragsrechts, die Reform des Stiftungssteuerrechts, die
Verteidigung der Buchpreisbindung, die Reform der deutschen Filmförderung,
die Neukonzeption der auswärtigen Kulturpolitik sowie die Rückführung
der Besteuerung ausländischer Künstler hervor. Die bereits
von Willy Brandt und Günter Grass in den 70er-Jahren geforderte
Kulturstiftung sei nun endlich eingerichtet und soll dabei helfen,
Leistungen und Werke der Künste und der Kultur besser zu bewahren,
zeitgenössische kulturelle Innovationen besonders zu fördern
und die kulturelle Integration und den Austausch zu pflegen. Die
kritische Einmischung und kreative Anregung von Künstlerinnen
und Künstlern, Schriftstellern und Intellektuellen sei dabei
ausdrücklich gewünscht. Die Kulturpolitik des 21. Jahrhunderts
müsse besonders von Offenheit getragen sein.
Nach der Lesung von Tilmann Spengler, Schriftsteller und Mitherausgeber
der Zeitschrift „Kursbuch“, aus seinem Werk „Meine
Gesellschaft“, bildete eine Podiumsdiskussion zum Thema „Kultur
– Bildung – Integration“ (Teilnehmer: Dr. Gerhard
Langemeyer, Oberbürgermeister der Stadt Dortmund, stellvertretender
Vorsitzender der Bundes-SGK und Vorsitzender der SGK Nordrhein-Westfalen;
Willi Lemke, Senator für Bildung und Wissenschaft der Freien
Hansestadt Bremen; Peter Lüchinger, Schauspieler, Bremer Shakespeare
Company; Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin; Tilmann Spengler; Moderation:
Carmen Emigholz, MdB, Kulturpolitische Sprecherin der SPD-Bürgerschaftsfraktion
des Landes Bremen) den Abschluss der Veranstaltung. Insgesamt verließ
man den Kongress mit dem Eindruck, dass in Deutschland das Bewusstsein
für die große politische Bedeutung der Kunst wächst
und ein neues kulturelles Klima herrscht.