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nmz-archiv
nmz 2002/09 | Seite 5
51. Jahrgang | September
Feature
Drei Schuhschachteln und eine ältere Arena
Konzerthallen im Kräftespiel von Architektur, Akustik und
Kulturpolitik · Von Andreas Kolb
Der Wiener Musikvereinssaal (1870), das Leipziger Gewandhaus (1884),
die Berliner Philharmonie (1963) oder der Konzertsaal in Luzern
(1998) – obwohl aus völlig verschiedenen Epochen stammend,
sind Hallen wie diese Maßstab für jeden Neubau einer
Konzerthalle – beispielsweise wurde für das Konzerthaus
Dortmund die Akustik des Wiener Musikvereinssaales tatsächlich
nachgebaut.
Allzu leicht vergisst man dabei, dass die instrumentale Musik des
18. und frühen 19. Jahrhunderts in völlig anderen klanglichen
Gegebenheiten aufgeführt wurde. Bis 1808 wurden beispielswei-
se die Orchesterwerke Ludwig van Beethovens überwiegend in
den Palais der Wiener Aristokratie aufgeführt (vgl. Stefan
Weinzierl in „Beethovens Räume“, Verlag Erwin Bochinsky).
Neben dem selten für Konzerte genutzten Wiener Theater stand
in der Musikstadt Wien erst ab 1931 ein großer Konzertsaal
zur Verfügung. Diese Palais waren für heutige Verhältnisse
sehr klein. Aufführungen der Konzerte Beethovens, Schuberts,
Salieris, Haydns oder Mozarts unterschieden sich folglich in Lautstärke,
Klangfarben, Nuancierung und damit in der Wirkung auf den Zuhörer
völlig von heutigen.
Musikgeschichtlich gesehen sind also Konzerthallen etwas sehr junges.
So jung eben wie die instrumentale Musik, für die sie gebaut
werden. Denn erst mit dem Beginn der Entwicklung der großen
Formen, den Symphonien, den Sonaten, beginnt Anfang des 19. Jahrhunderts
die große Epoche der instrumentalen, autonomen Musik. Dass
seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer größere, schönere
Konzerthallen gebaut wurden, war wiederum möglich durch den
Aufstieg eines städtischen Bürgertums, das für sich
neben dem Zugang zu den Kapitalmärkten auch den zu dem bislang
dem Adel vorbehaltenen gesellschaftlichen Leben in Anspruch nahm.
Man traf sich in öffentlichen Parks, Kaffeehäusern, Bierhallen
und eben auch Konzerthallen, um dort Geschäften nachzugehen,
sich zu amüsieren und Theater oder Musik zu erleben.
Was bestimmt heute das Verhältnis zwischen Architektur, Musik
und Gesellschaft? Mit dieser Frage beschäftigte sich Anfang
Juni der 16. Internationale Kongress der ISPA (International Society
for the Performing Arts) im Luzerner Kultur- und Kongresszentrum
(kurz KKL). Dieses Jahr mischten sich zahlreiche Teilnehmer aus
Architektur und Akustik unter die anwesenden Intendanten und Chairmen:
„Art.Space” hieß das Thema, wegen dem etwa 200
Teilnehmer vor allem aus den Vereinigten Staaten, Asien, Großbritannien,
aber auch aus dem deutschsprachigen Europa angereist waren. Komponisten
und Musiker waren bedauerlicherweise nicht anwesend.
Die oben gestellte Frage nach dem Verhältnis von Raum, Musik,
Stadt, Zuhörer und Musiker zueinander, beantwortete der Kongress
mit der Präsentation einiger Fallbeispiele aus der ganzen Welt.
Der Besuch einiger „Musiktempel” in unserer näheren
Umgebung kann auch Antworten geben – oder neue Fragen aufwerfen.
KKL in Luzern
Das KKL: Zukunftsarchitektur
am Vierwaldstädtersee. Foto: Lucerne Festival
Es hat zwar einen prosaischen Namen, doch wie kein zweites vereinigt
das Kultur- und Kongresszentrum in Luzern zeitgenössische Architektur
und exzellente Akustik. „Wunderbar ist die Akustik, wunderbar
das Haus, eines der schönsten Häuser der Welt“,
bestätigte Claudio Abbado den Bauherren 1998 nach der Eröffnung
enthusiastisch.
Genial die Idee des Architekten Jean Nouvel, das Haus wie eines
der zahlreichen Ausflugsschiffe auf dem Vierwaldstättersee
an die Stadt gleichsam andocken zu lassen, die Besucher durch enge
Gangways mit niederen Decken durch einen „Schiffsbauch“
zu führen; ins Parkett steigt man hinab wie in einen Maschinenraum,
gedämpftes Licht, Luken dienen als Fenster, die die alpine
Luzerner Landschaft wie gerahmt erscheinen lassen. Unvermittelt
dann der Eintritt ins Allerheiligste: Man betritt die ganz in weiß
gehaltene Halle des Konzert- saals, eine Basilika der Musik. Gerald
Mortier nannte den Konzertsaal die „Apotheose dessen, was
eine Konzerthalle in der westlichen Zivilisation bedeutet. Schinkel
wäre sehr stolz auf sie”.
Auch die Außenansicht des KKL ist beeindruckend: Keiner kann
sich der Wirkung der 50 Meter frei über den See hinausragenden
Dachkonstruktion entziehen. Doch welche Interessen hinter der Errichtung
eines derartigen Kolossalbaus stehen, sieht man erst auf den zweiten
Blick. Zunächst gab es die Keimzelle: Eine Initiative aus Bürgern,
kommunalen Politikern und Hoteliers will endlich für die traditionsreichen,
von Arturo Toscanini 1938 als Alternative zum nationalsozialistisch
vereinnahmten Salzburg gegründeten Festspiele ein zeitgemäßes
und attraktives Haus.
Dazu Michael Haefliger, Intendant des Luzern Festivals: „Ein
neues Gebäude belebt und entwickelt einen Ort, gibt ihm künstlerische
Lebendigkeit. Das Luzerner Symphonieorchester hat mit dem neuen
Konzertsaal ein völlig neues Programm entwickelt: Plötzlich
wurden sie modern. Wir haben im Jahr an die zehn Uraufführungen
gemacht. Sie hatten in jedem Programm zeitgenössische Inhalte
gehabt, und das Echo beim Publikum war sehr groß. In neuen
Räumen sind die Leute mehr dazu bereit, auch Neues zu erleben;
ob das nun Säle sind, in denen man die Stühle bewegen
kann oder nicht, ist sekundär.“ Haefliger kann dies leichten
Herzens sagen, steht ihm doch neben dem Konzertsaal mit dem „Mittleren
Saal“ ein flexibler Saal mit bis zu 900 Plätzen zur Verfügung.
Von der ebenerdig beladbaren Bühne bis hin zu flexibler Raumausnutzung
mit und ohne Bestuhlung ist hier vieles möglich.
Dortmunder Konzerthaus
Konzerthaus Dortmund: Spitzenakustik
im Häusermeer. Foto: Konzerth. Dtmd.
Den Aufbruch in seine erste Spielzeit 2002/03 begeht das Konzerthaus
Dortmund mit einem Eröffnungswochenende vom 13. bis 15. September.
Auch wenn das Konzept des Hauses von der World Music über Jazz
bis hin zur Moderne – einschließlich eines Composer
in residence – allem und allen gerecht werden will –
auch Shopping Malls und Gastronomie wurden nicht vergessen –,
die Eröffnung wird „traditionell“ symphonisch gestaltet
werden mit Mahler, Beethoven und Bruckner. Protagonisten der Einweihung
sind das Philharmonische Orchester unter Arthur Fagen und das Deutsche
Sinfonieorchester unter Kent Naganos Leitung. Das Konzept des Hauses
ist gewissermaßen der Gegenentwurf zu Luzern. Setzte man im
mondänen Schweizer Urlaubsort auf Stararchitekten, so ließ
Intendant Andreas Vogt, der gleichzeitig auch Leiter der Betreibergesellschaft
„Kultur Projekt Dortmund GmbH“ ist, auf ein junges Architekten-Team
aus der Ruhrgebietsmetropole, die Planungsgruppe Dortmund. Die akustische
Ausstattung besorgte keine Consulting Firma aus New York, sondern
Brigitte Graner aus Bergisch Gladbach, die diesen Auftrag als „bislang
schönsten Saal unserer Firma“ bezeichnet. Als Vorbild
diente der Akustikerin der Wiener Konzertvereinsaal (Hallentyp „Schuhschachtel“),
der in Dortmund für 1.550 Plätze akustisch „nachgebaut“
wurde.
Während Gerard Mortier und seine Triennale sich mit der problematischen
Akustik stillgelegter Zechen herumschlagen wird, entsteht im Konzerthaus
der akustischen Superlative vielleicht das Zeichen eines neuen bürgerlichen
Selbstbewusstseins in Dortmund, dessen Bürger nicht länger
in die Kölner Philharmonie oder in die Düsseldorfer Tonhalle
fahren wollen. Doch bei allem Aufbruchswillen: hinter dem „akustischen
Historismus” der Dortmunder Bauherren kommt museales Denken
zum Vorschein.
Essener Philharmonie
Kaum profiliert sich Dortmund als das neue Klassik-Zentrum des
Ruhrgebiets, da meldet sich die Konkurrenz. In Essen wird im Juni
2004 die Philharmonie Essen mit einem Konzert der Essener Philharmoniker
unter Stefan Soltesz eröffnet. Während Dortmund für
einen Neubau plädierte, entschied sich der Rat der Stadt Essen
1991 für eine Philharmonie im bereits vorhandenen Saalbau.
Der renovierungsbedürftige Saalbau gilt als ein Ort, mit dem
sich die Essener identifizieren: Bei einer Volksbefragung sprachen
sich 90.000 Essener gegen einen Abriss des Saalbaus aus. Nach einem
kompletten Umbau beherbergt das Gebäude dann einen großen
Konzertsaal mit knapp 2.000 Plätzen, statt des Kammermusiksaales
wird ein Pavillon das Bedürfnis nach Kammermusik und experimenteller
Musik zufrieden stellen. Auch die bisher im Bau beheimatete Restauration
wird in etwas geringerem Umfang weiter betrieben. Doch nicht nur
dieses Anknüpfen an gewachsene städtische Tradition scheint
erfolgversprechend: auch das potente unternehmerische Umfeld sieht
im neuen Konzerthaus einen wichtigen Ort zur Identifikation und
Repräsentation.
Der Geschäftsführer der Michael Kaufmann Concepte GmbH,
Michael Kaufmann, entwickelt derzeit ein breites Konzept mit Veranstaltungstypen
von der Symphonik, über Jazz und Operette bis hin zu Galakonzerten.
Eine Zusammenarbeit mit dem Klavierfestival Ruhr und der Ruhrtriennale
ist bereits für die ersten Monate der ersten Spielzeit 2004/05
vorgesehen.
Die akustische Ausstattung übernimmt Karlheinz Müller
von Müller BBM aus München, ein renommiertes Büro,
das unter anderem auch die Akustik des Festspielhauses in Baden-Baden
konzipierte. Auch wenn der Saalbau zum Typ „Schuhschachtel“
gehört, in Essen strebt man nicht an, einen akustischen Vergleichsfall
nachzubauen wie dies die Dortmunder tun, sondern man will der Halle
einen eigenen, unverwechselbaren Klang geben.
Die nmz begibt sich zwar noch nicht selbst unter die Bauherren,
aber auf musikjournalistisches Neuland: In lockerer Folge wird sie
auf speziellen Seiten über Planung, Entwicklung, architektonische
und akustische Konzepte, programmatische Ausrichtung, kulturpolitische
Hintergründe sowie musikwirtschaftliche Bedeutung der Philharmonie
Essen berichten.
Kulturzentrum Gasteig
17 Jahre ist das Münchner Kulturzentrum Gasteig in Betrieb.
Architektonisch wirkt der Backsteinbau seit jeher wie die uneinnehmbare
Trutzburg elitärer Hochkultur. Damit scheint es nun bald vorbei
zu sein:
Für Brigitte von Welser, Geschäftsführerin der Gasteig
Betriebsgesellschaft, steht bei der in den nächsten Jahren
anstehenden Renovierung des Gasteig in erster Linie multifunktionale
Nutzung, Gastronomie und auch eine Öffnung für Populäres
im Vordergrund. Das Gasteig soll attraktiver werden, indem es sich
der Stadt, dem public space öffnet – es bleibt zu hoffen,
dass man sich dabei nicht nur modischem, zeitgeistigen Event ausliefert.
ars electronica in Linz
Alle genannten Häuser richten sich hauptsächlich am
symphonischen Standardrepertoire aus. Alle orientieren sich weitgehend
an den akustischen Archetypen der „Schuhschachtel“,
(Wiener Musikverein, Gewandhaus, Herkulessaal München, Lu-zern,
Dortmund), dem Typus Arena (Münchner Gasteig, Berliner Philharmonie)
oder dem Opernhaus. In diesen Konzerthallen wird das Gestern und
vielleicht noch das Heute reflektiert, wer aber initiiert dort das
Morgen?
Dazu Gerfried Stocker, Künstlerischer Leiter des Ars Electronica
Centers in Linz: „Elektronische, multimediale Kunst ist immer
mit Raumproblemen konfrontiert. So wie im Museum nicht länger
Tafelbilder dominieren, sondern begehbare interaktive Werke die
Architektur herausfordern, so ändern sich auch akustische Gegebenheiten
in Museum und Konzertsaal.“ Stocker legt dabei weniger Wert
auf bestimmte architektonische und akustische Prämissen. Sein
Ansatz ist kulturpolitisch: „Heute genügt es nicht mehr
einmal Mittel für eine Projektfinanzierung freizustellen, und
dann 20 oder 30 Jahre Ruhe zu haben. Heute sollte jede Halle, jedes
Museum die laufenden Kosten mit einplanen, da die Strukturen, die
Künste selbst sich ändern. Elektronische Musik, elektronische
Kunst ist ein permanenter Umbau.“