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nmz-archiv
nmz 2002/09 | Seite 10
51. Jahrgang | September
Kulturpolitik
Das ausgesessene Nichts: kulturelle Schieflagen
Der unglückliche Einstand der Kulturreferentin Lydia Hartl
und das Desaster Münchens
Selbst wenn es nicht so sein sollte, wäre es doch gut erfunden:
In der Wüste ist die Zahl der ertrinkenden Menschen größer
als die der verdurstenden. Das will sagen, dass unerwartete Katastrophen
weit verheerender wirken als solche, die eingerechnet werden. Katastrophal
ist er wirklich, der Haushalt der Stadt München. Keines der
großen Unternehmen, die in der Stadt siedeln, zahlt auch nur
einen Euro an Gewerbesteuern. Schlimmer noch: Es gibt stattliche
Steuerrückforderungen. Als auch die HypoVereinsbank schließlich
auf diesen Zug aufsprang (sie machte das durchaus legal im Rahmen
der Steuergesetze) wurde der Gau verkündet. Seit 24. Juli 2002
wurde eine Haushaltssperre erklärt. Andere Städte unseres
Landes können darüber nur müde lächeln, müssen
sie doch Jahr für Jahr mit Restriktionen dieser Art leben –
zum Teil mit kreativen bis waghalsigen Auffangnetzen steuern sie
sich dann durch diese finanziellen Untiefen. Im reichen München,
das Prasserei und Denkfaulheit gleichermaßen Raum bot, gab
es bislang kaum die Notwendigkeit für solche Gratwanderungen.
Und so-gleich droht dem unsicheren Fuß der Absturz.
Das wäre noch nicht so schlimm, wenn ein besonnener, scharf
denkender Kopf die Schritte leiten könnte. Aber zum finanziellen
Defizit tritt ein geistiges. Würde man behutsam und zugleich
klar mit der Situation umgehen, dann wäre wohl vieles zu regeln:
vielleicht schmerzhaft, aber nicht existenzbedrohend. Aber wo schwarze
Zahlen regierten, kann man nach ihrem Abdanken nur noch in Rotstiften
denken. Und das ist das Fatale. Ein Körper, der plötzlich
mit weniger Nahrung auskommen muss, greift Fettsubstanzen an und
reduziert die Zufuhr an die Organe. Nie würde er die Leber
oder die Lunge „zum Wohle der anderen“ opfern. Und auf
den Gedanken, aus Restsubstanzen einen zweiten Blinddarm zu installieren,
käme er schon gleich nicht. In München aber scheint das
so zu sein. Das jetzige finanzielle Chaos (ist es wirklich so schlimm,
oder lässt sich vielleicht mit kühlerer Draufsicht auf
finanzielle Entwicklungen ein panikbereinigtes Bild zeichen?) entwickelt
eine eigene Dynamik bis hin zum Selbstzerstörerischen. Blinde
Hühner sind jedenfalls schlecht geeignet, ihren Hof zu retten.
Sie rennen ihre Köpfe an den Problemen wund ohne Aussicht auf
Ordnung und Sichtung: die städtischen Bühnen, das renovierungsbedürftige
und darob zum Abschuss freigegebene Deutsche Theater, die Levine-Nachfolge
bei den Philharmonikern (der Wunschkandidat des Orchesters Thielemann
erklärte bereits: ich bin kein Sparhaushalt-Dirigent), das
schon aufgegebene Richard-Strauss-Konservatorium, die städtischen
Bibliotheken, die Schließung des Kulturzentrums Einstein,
die Museumslandschaft, die freien Kunstszenen, das Literaturhaus
und, und, und ...
Seit einem Jahr ist Prof. Dr. Dr. Lydia Hartl Kulturreferentin
der Stadt München. Zugute wäre ihr zu halten, dass sie
von ihrem Amtsantritt weg in ein Loch fiel. Das ist nicht schön,
wenn man von großen Projekten träumt und mit ständig
kleiner zu backenden Brötchen konfrontiert wird. Sie wurde
zum Amt der Streichreferentin verdonnert. Damit wurde sie zur Lieblings-Referentin
des Münchner OB Christian Ude, der freilich schon bald noch
der letzte ist, der ihre Fahnen hoch hält. Denn die sprachliche
Ungeschicklichkeits-Meisterleistung von Helmut Kohl „Wichtig
ist, was unten raus kommt“ begann mehr und mehr auch auf Lydia
Hartl zu greifen. Von ihr wurde ein Verfahren gepflegt, das ein
Vorfahr von Helmut Kohl, nämlich Konrad Adenauer, zur Perfektion
entwickelte: das Aussitzen. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass
Adenauer Inhalte aussaß, die seinen Vorstellungen entsprachen.
Hartl aber sitzt das Nichts aus. Ihre Verzögerungs-Verhandlungen
mit Thielemann wurden zur Farce, noch schwerwiegender aber war wohl
ihre Inaktivität im Vorfeld davon, wo sich die Philharmoniker
noch keineswegs auf Thielemann eingeschworen hatten. Es ist wohl
kein Geheimnis, dass Hartl Thielemann oder dessen Kunstauffassung
nicht sonderlich mag. Hier aber war eines der ausgesessenen Nichts.
Keine Alternative wurde in die Debatte gebracht, nicht einmal eine
Lenkung der Sicht auf andere ästhetische Möglichkeiten.
Schließlich nahmen die Philharmoniker das längst aus
den Händen gegebene Ruder selbst in die Hand. Und sie mögen
noch davon profitiert haben, dass Mariss Jansons, der avisierte
Nachfolger von Lorin Maazel beim Sinfonieorchester des BR, plötzlich
mit dem Amsterdamer Concertgebouw liebäugelte, dem Thielemann
auch schon Zuneigung bekundet hatte. Hartl war in diesen Schlachten
nicht einmal ein Pingpong-Ball. Es ist ein trauriges Zeugnis, dass
München unter den Top-Stars nur als zweite Wahl gehandelt wird.
Aber mit kreativer Energie könnte ein solches Urteil (siehe
Toulouse, siehe Birmingham, siehe Cincinatty, siehe vielleicht auch
Freiburg) ins Gegenteil verkehrt werden. Aber das ausgesessene Nichts
birgt keine kreative Energie.
Es mag mitunter so wirken, als habe Lydia Hartl in der Journalistin
Sabine Dulz beim konservativen Münchner Merkur so etwas wie
eine vorgeschobene medienpolitische Sprecherin gefunden. Die leistete
sich nämlich gleich nach der ausgerufenen Haushaltsperre in
einem Kommentar eine Streichliste konkret zu benennen. Verzichtbar
in München sind ihrer Meinung unter anderem die „Puderzucker“-Aktivitäten
wie die Musiktheater-Biennale, das Spiel.Art-Festival und die Internationale
Dance-Biennale. Das Kinder- und Jugentheater „Schauburg“
fällt ebenso unter das Verdikt wie das Münchner Filmfest.
Als erstes hätte man auf so einen Artikel einen vehementen
Einspruch auf Seiten von Lydia Hartl erwartet. Auf zufälliger
(wenn auch häufiger) Dienstreise kann sie nicht gewesen sein,
der Artikel kursierte selbstverständlich über Wochen im
Kulturreferat. Die Entgegnung aber unterblieb. Der Verdacht entsteht,
dass Lydia Hartl zumindest einige Gelder aus dieser Liste wirklich
massiv zurückzufahren versucht. Das aber sind gerade die Aktivitäten,
die München aus der deutschen wie auch internationalen Landschaft
hervorheben, die die Stadt weit über die kulturellen Zirkel
hinaus attraktiv macht. Es darf nicht Anliegen der Kulturreferentin
(und auch nicht der Stadt) sein, München zur Provinz herunterzufahren.
Auch dann nicht, wenn aus solchermaßen eingefahrenen Mitteln
zur Begütigung Brosamen für die städtische Kulturszene
abfallen sollten. Denn Eigenes und Internationalität dürfen
nie zum Widerspruch ausgebaut werden. Nur wenn Internationales sich
wohl fühlt in München, weil es hier kulturellen Widerpart
verspürt (Widerpart im Sinne von Ergänzung und Weitung),
floriert künstlerisches Leben.
Nach so vielen Einzwängungen fragt man sich, was Lydia Hartl
überhaupt will. Und wiederum greift das ausgesessene Nichts.
Diesmal hat es einen Namen: Medienkunstprojekt „Lab21“.
Englisch ausgesprochen („Läb21“) klingt das gut.
Nach vielen Verzögerungen und Hinhaltemanövern kam das
kurz vor der Haushaltssperre (war es ein Coup von Ude, der schon
davon und darum um seine Aussetzung wusste?) in den Kulturausschuss.
Es lohnt sich, den fast 30-seitigen Entwurf, eine wissenschaftlich
geblähte Blase, zu lesen, auch wenn diese Aktion die Beharrlichkeit
eines Masochisten erfordert. München soll, wenn man die Quintessenz
entschlüsselt (man korrigiere mich) auf 100 mietfreien Quadratmetern
informeller Knotenpunkt von Medienkunstprojekten werden, die sich
weltweit ereignen. Das kostet, denn man betraut mit Monika Fleischmann
(Sitz beim Fraunhofer-Institut in Sankt Augustin) internationale
Spitzenpositionen, für die kommenden drei Jahre mehr als eine
Million Euro. Man würde damit Know-How im Werte von 2,5 Millionen
Euro einkaufen. Die Aktie springt also um 150 Prozent! Jedes Milchmädchen
muss da staunen. Milchmädchen Ude staunte. Und die Sitzung
wurde zur Farce. Ude mahnte alle konservativen Kunstlümmel:
Nie wurde von der Gegenwart verstanden, was in der Zukunft künstlerisch
produktiv werden würde. Da hat er zwar Recht, und es ist nach
seinen eloquent basisarmen Ausführungen auch gerne zu glauben,
dass er das nicht weiß. Muss er auch nicht, es hieße
nahezu alle OBs der Nation zu überfordern. Aber es gibt ein
Korrektiv: den Sachverstand. Medienkunst (die Grünen schummelten
den Begriff „Kritische Medienkunst“ unter) wird in Zukunft
eine maßgebliche Rolle spielen. Doch die Informationen dazu
holen sich die wesentlichen Künstler schon jetzt oder zumindest
bald aus dem Netz, das einem informellen Zentrum schon jetzt das
Wasser abgräbt. Das weitere, das Wichtige ist aber die Kreativität,
der Witz, der Geist von individuell oder auch kollektiv Tätigen.
Das betont schlanke „Lab21“ dürfte von ihnen nur
belächelt werden. Oder benutzt wie eine Frittenbude irgendwo.
Da sagt der Kopf immer, der Bauch meistens nein. Zukunft heißt
Visionen mit dem Potenzial vor Ort verbinden. Was ist wenn Ersteres
nicht erbracht, das Zweite aber außer Acht gelassen werden?