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nmz-archiv
nmz 2002/09 | Seite 10
51. Jahrgang | September
Kulturpolitik
Mit der Heiterkeit eines ganzen Volkes
40 Jahre Leipziger Synagogalchor
Die Schlusstakte des 'Ma tauwu‘ schwingen noch lange im
Gewandhaussaal. Jedoch gibt es keinen Applaus nach diesem ersten
Lied, als wollte niemand die sakrale Atmosphäre stören.
Der Leipziger Synagogalchor eröffnete mit den Psalmenvertonungen
von Samuel Lampel das Festkonzert anlässlich seines 40-jährigen
Jubiläums. Der Chor ist europaweit einzigartig: 32 Laiensänger
pflegen das Erbe der Synagogalmusik des 19. und 20. Jahrhunderts
ohne ein jüdisches Mitglied in ihren Reihen zu haben.
Der damalige Oberkantor der jüdischen Gemeinden in Leipzig
und Dresden, Werner Sander gründete, das Ensemble. Zur Wiedereröffnung
der Gemeindesynagoge in der Keilstrasse im August 1962, dem einzigen
der 17 jüdischen Gotteshäuser Leipzigs, das die Nazis
nicht vollständig zerstört hatten, trat der Leipziger
Synagogalchor zum ersten Mal in die Öffentlichkeit. Sander
pflegte vorrangig die synagogale Musik, bearbeitete aber auch jiddische
und hebräisch-orientalische Volkslieder für die Konzerte.
Die Kantorensoli des traditionellen Wechselgesangs übernahm
der Oberkantor selbst oder sein Westberliner Kollege Leo Roth.
1969 bekam Roth kurzfristig Einreiseverbot in die DDR. So kam der
junge Tenor des Leipziger Opernensembles, Helmut Klotz, zur Rolle
des Vorsängers und Solisten. Erst einmal wehrte er sich mit
Händen und Füßen: „Ich kann das nicht lesen,
außerdem bin ich Opernsänger...“ Sander setzte
den Tenor ohne viel Worte vor ein Tonbandgerät, spielte Ausschnitte
aus dem Repertoire – und hatte ihn. Helmut Klotz war begeistert.
Nach dessen Kantoren-Debut hielt Sander seinen Solisten fest, auch
wenn er sich damit von jüdischer Seite einigen Ärger einhandelte:
Ein Nichtjude als Kantor? Nach dem Tod Werner Sanders 1972 dirigierte
der Sänger das Berliner Gedenkkonzert und feiert heute sein
30-jähriges Jubiläum als künstlerischer Leiter.
Die Hohe Zeit der jüdischen Tempel-Musik in Deutschland begann
um 1870. Damals wurden Orgeln in die Synagogen eingebaut und die
Mehrstimmigkeit hielt Einzug in die jüdischen Gotteshäuser.
Kompositionen von Louis Lewandowski, Salomon Sulzer, Samuel Alman,
Mordechai Zeira und andere mehr gehören zum Repertoire des
Synagogalchores.
Zunehmend arbeitet der Chor mit zeitgenössischen Komponisten
jüdischer und nichtjüdischer Kultur, wie Bonia Shur und
Siegfried Thiele zusammen. Auch Kurt Weill steht im Repertoire.
Der israelische Komponist Joseph Dorfman widmete dem Ensemble Gesänge
nach Texten aus dem Ghetto in Vilna. Die kontinuierliche Förderung
durch die Stadt Leipzig und ihren Kulturdezernenten, Georg Girardet,
ist dem Ensemble sicher. Die Dresdner Bank ist seit vielen Jahren
einer der Hauptsponsoren und stellt unter anderem den Probenraum
zur Verfügung. Dazu kommt Unterstützung von Institutionen
wie dem Deutschen Musikrat, dem Sächsischen Staatsministerium
für Wissenschaft und Kunst, aber auch von Firmen und Einzelpersönlichkeiten.
Reich ist das Ensemble allerdings nicht. Für die Chorsänger
gibt es weder Proben- noch Auftrittshonorare, Solisten erhalten
nur eine Aufwandsentschädigung. In der Regel wird einmal wöchentlich
geprobt, 15 bis 20 Konzertauftritte hat der Chor jährlich weltweit.
Das künstlerische Niveau ist außergewöhnlich hoch.
Für diese Musik braucht es neben Handwerk und Motivation auch
ein starkes emotionales Einlassen.
Die jüdische Kultur in Deutschland blühte in einer Symbiose
beider Kulturen. Sie fand mit der Kristallnacht 1938 ihr Ende. Damit
haben die Nazis auch den nachfolgenden deutschen Generationen ein
Stück ihrer Wurzeln gekappt. In Israel ist die Synagogalmusik
des 19. Jahrhunderts heute kaum noch bekannt. Mit Gründung
des Staates gab es den völligen Neubeginn auch in der sakralen
Musik. „Die Ernsthaftigkeit eines Gebetes und die Heiterkeit
eines ganzen Volkes sind in der zutiefst lebendigen Kulturpflege
dieses Chores enthalten“ sagte Eliyahu Schleifer von der Universität
Jerusalem in seiner Laudatio, bevor das ungemein berührende
und gleicher-maßen aktuelle „s‘brennt“ von
Mordechai Gebirtig den Kreis des Festabends schloß.