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nmz-archiv
nmz 2002/09 | Seite 1, 8
51. Jahrgang | September
Leitartikel
Positionen der Parteien unter dem Mikroskop
Die Wahlprüfsteine des Deutschen Kulturrates in musikalischer
Hinsicht · Von Reinhard Schulz
Es war ein stattlicher Fragenkatalog, den der Deutsche Kulturrat
den im Bundestag vertretenen Parteien in Bezug auf ihre Vorstellungen
von Kulturpolitik vorlegte: 83 auf 8 übergeordnete Komplexe
verteilte Fragen (die Sonderausgabe zur Bundestagswahl der Zeitung
„politik und kultur“ war der letzten Ausgabe der nmz
beigelegt). Und die Parteien haben alle brav und mit Fleiß
geantwortet, fast so, als seien sie jetzt selbst das Objekt einer
PISA-Studie.
Ein paar Vorbemerkungen seien erlaubt. Zum einen gehört das
Ressort Kultur immer schon zur knetbarsten Masse, wenn es um Versprechungen
und ihre Einhaltung geht. „Soll für eine Theateraufführung
ein Kindergarten oder ein Altersheim geschlossen werden?“
fragte vor kurzem Münchens OB Christian Ude, als er kulturelle
Sparmaßnahmen begründen sollte (nein, soll es nicht,
möchte man antworten; wichtig aber wäre, dass den Kindern
und den Alten das Vergnügen am Theater nicht noch zusätzlich
ausgetrieben wird). Fast alles ist in den Augen der jeweils regierenden
Parteien wichtiger als die Kultur: innere und äußere
Sicherheit, Verkehr, Handel, Wirtschaft, soziale Netze (sowohl auffangende
als auch knebelnde), Wissenschaft et cetera. Deswegen kann man Antworten,
die von der Bedeutung der Kultur im Sinne eines ganzheitlichen Menschen
nebulös herumfabeln, getrost zum Altpapier legen. Kultur als
eng vernetztes System im Ganzen, als Bestandteil in den kreativen
Bereichen der Wirtschaft, als Gegenstand der Identitätsstiftung
und von geistiger Heimat (was rückwirkt auf innere wie äußere
Sicherheit), all dies wird viel zu schwach pointiert. Klarheit der
Stoßrichtung aber vermittelten die meisten Antworten auf die
vielleicht zu detaillierten Fragen kaum.
Ein zweiter Punkt wäre dem Fragenkatalog selbst anzulasten.
Nirgendwo wurde den Parteien ein Bündel von Fragen gestellt,
das geeignet wäre, den Kulturbegriff der einzelnen Partei selbst
zu umreißen (immer wurde man vorschnell konkret, etwa in Richtung
sozialer Absicherung, Urheberrecht, europäische Integration,
soziales Jahr et cetera). Das aber wäre ein ganz wesentlicher
Aspekt. Man kann heute zum Beispiel (jetzt in Bezug auf die Musik)
nicht davon sprechen, dass die Jugend immer weniger mit musikalischen
Phänomenen konfrontiert und von einer visuellen Welt absorbiert
würde, wenn man an jeder Straßenecke und auf jedem zweiten
U-Bahnsitz einem verstöpselten Jugendlichen begegnet, der sich
seine 200 Beats per Minute reinzieht. Da hat er seine Musik und
stört sich auch nicht an der großen Anfrage der CDU/CSU
zur Rock- und Popmusik, die letztlich darauf abzielte, deutsche
Versionen dieser Beats per Minute entschiedener und wirtschaftlicher
auf dem Weltmarkt zu verankern. Was dem solche Kultur Absorbierenden
letztlich egal ist.
Kulturbegriff
Die Parteien hätten ihren Kulturbegriff zu erläutern.
Denn mit Kultur kann man vieles machen: Man kann die Menschen im
Amüsement, jetzt besser im „Easy Feeling“ ertränken
(etwas, was sowohl Propagandaminister Goebbels argumentativ als
auch die vom US-Markt dominierte Kulturindustrie, hier ohne viele
Argumente, vertraten und vertreten), man kann ihnen „hehre“
Gefühle (auch unter dem Deckmantel von „Werten“)
vermitteln, die die Bereitschaft für was auch immer befördern
(auch hier bieten der Nationalsozialismus, aber auch die Stalinistische
Kulturpolitik, reichlich Beispiele), man kann aber Kultur auch so
verstehen, dass der Mensch neugierig gemacht wird, dass sein kritischer
Verstand im kreativen Vergnügen geweckt wird – es ist
ein Mensch, der der kruden Politik nicht selten unangenehm im Wege
stehen wird. Der Einsatz einer Partei für die Kultur kann nicht
von solchen Basisfragen abgetrennt werden. Wer hier nur nach abhakbaren
Zahlen und nach Vermittlungskanälen fragt, muss letztlich in
die Irre gehen. Man mag es als Symptom heutiger Kulturauffassung
ansehen, dass diese inhaltliche Seite eine relativ untergeordnete
Rolle spielt – ganz im Gegensatz zu früheren Geschichtsperioden.
Wenn man sich heute mit Blick auf die PISA-Studie fast so etwas
wie eine Finnlandisierung Mitteleuropas wünscht, dann sollte
man auch einmal einen Blick darauf tun, wie viel Finnland in den
letzten Jahren in Richtung auf einen kritischen Kulturbegriff in
Gang setzte.
So hätte der Fragenkatalog seitens der Parteien durchaus eine
kritische Vorbemerkung verdient, eine die auf das eigene Kulturverständnis
fokussiert. Dafür aber sahen nur die CDU/CSU und die PDS eine
Notwendigkeit, während die übrigen Parteien sich wie in
einer Schulprüfung sofort beflissen an die Arbeit machten.
Die Vorbehalte von CDU/CSU verdienen einer Erwähnung: „Der
vorgelegte Fragenkatalog des Deutschen Kulturrates an die im Bundestag
vertretenen Parteien mit seinen über 80 Fragen plus ungezählten
Unterfragen entspricht in seinem Anspruch auf Vollständigkeit
ziemlich genau den Erwartungen einer deutschen Behörde. Das
ist ebenso beeindruckend wie deprimierend. Dem Versuch einer möglichst
vollständigen Erfassung aller relevanten Sachverhalte der Kulturpolitik
sowie einiger angrenzender Bereiche kann aus grundsätzlichen
wie praktischen Gründen nicht entsprochen werden.“ Man
verweist darauf, dass finanzielle Absichtserklärungen häufig
nur Augenwischerei betreiben, die einzig populistischen Tendenzen
Vorschub leisten. Das ist zumindest ehrlich.
Die PDS betonte in ihrer Vorbemerkung, dass sie den Anspruch, „Kulturpolitik
als gestaltende und nicht als nachvollziehende Politik zu begreifen“
besonders unterstützt und verweist im Übrigen darauf,
dass sie in der Entwicklung eines eigenen Kulturverständnisses
(getragen von ihrer Losung der „sozialen Gerechtigkeit“)
noch eine Reihe von Defiziten (in Bezug auf westliche Kulturformen)
und die Erfahrungen der DDR-Kulturpolitik aufzuarbeiten hätte.
Und sie schickt unter Frage 1.1 (zu gesamtstaatlichen Aufgaben von
Kulturpolitik) nach: „Nach unserem Verständnis ist Kultur
nicht allein ein Ressort politischen Handelns, sondern sinnstiftender
Hintergrund politischer Programmatik und Moment aller Aktivitäten,
mit denen die Partei auf Herausforderungen des gesellschaftlichen
Wandels reagiert. Auf dieser Grundlage wird die PDS sich auch in
den nächsten Jahren für kulturelle Selbstbestimmung und
die Akzeptanz unterschiedlicher Lebensweisen engagieren. Kultureller
Selbstausdruck und Teilhabe an der Kultur dürfen nicht Vorrecht
Einzelner, sondern müssen für alle möglich sein.“
In solchen Äußerungen der CDU/CSU oder der PDS bekundet
sich einiges Unbehagen gegenüber dem Fragenkatalog, der in
seiner Detailfixiertheit den Blick auf ein gesamtes Kulturverständnis
eher verstellen als erhellen könnte.
Zeitgenössische Musik
Blicken wir auf konkrete Fragen in Bezug auf die Musik. Hier ist
besonders die Frage 1.10 von besonderem Interesse, die auf die Förderung
des kompositorischen Schaffens beziehungsweise von Aufführungen
zeitgenössischer Musik gerichtet war. Gerne wird man hier eine
Zusicherung der SPD zur Kenntnis nehmen: „Allgemein formuliert:
Für die Förderung zeitgenössischer Musik, für
Erstaufführungen und ihre Vermittlung gegenüber dem Publikum
kann gar nicht genug getan werden. So werden wir dafür sorgen,
dass erprobte Veranstaltungen – wie die Donaueschinger Musiktage
oder das ,Konzert des Deutschen Musikrates’ (das ist allerdings
angesichts der Vielzahl der Aktivitäten eine Formulierungsschwäche!
R.S.) – auch in Zukunft ausreichend finanziert bleiben.“
Gerne wird man die Partei nach ihrer eventuellen Wiederwahl in dieser
Sache beim Wort nehmen.
Die CDU/CSU äußerte sich auf diese Frage etwas pauschaler
und hielt sich auch im Hinblick auf ihre Pop- und Rock-Musik-Aktivitäten
ein zusätzliches Türchen offen: „Komposition, Aufführung
zeitgenössischer Musik sind in der Musikgeschichte des Landes
wichtige Bestandteile des lebendigen kulturellen Schaffens. Die
musikalische Nachwuchsförderung und Wettbewerbe sollten neben
der Pflege der Musiktradition bis einschließlich des 20. Jahrhunderts
sowohl der Komposition als auch der Interpretation zeitgenössischer
Werke angemessenen Raum geben. Dies gilt für das Musiktheater,
die Orchester-, Ensemble- und Vokalmusik und zunehmend auch für
den Bereich der so genannten ,U-Musik’ (Rock, Pop, Jazz, Folk,
HipHop und andere neue Musikstile), da die Grenzen zwischen den
Genres immer weniger plausibel sind.“ Ob hiervon entscheidende
Initiativen zu erwarten sind, oder ob dadurch alles mehr oder weniger
beim Alten bleibt, sei dahingestellt.
Eine launige Idee wurde bei dieser Frage von den Grünen entwickelt:
die Ankoppelung des Zeitgenössischen an historische Erfolgsträger:
„Durch die Verbesserung beim Urhebervertragsrecht hat die
jetzige Bundesregierung die Situation von Komponisten wesentlich
verbessert (mancher Komponist würde hier wohl ein Fragezeichen
setzen, R.S.). Was die Förderung von Aufführungen zeitgenössischer
Musik betrifft: Hier regen wir an, über ,Voropern’ nachzudenken.
Vor klassischen Opern bekämen so zeitgenössische Musikopern
(wohl ein Neologismus, R.S.) die Möglichkeit, ihre Arbeiten
einem größeren Publikum zu präsentieren. Dieses
Konzept ließe sich womöglich generell auf Aufführungen
zeitgenössischer Musik übertragen.“ Freilich darf
man nachfragen, was wohl die Hebel wären, um solche Konzepte
bei zuständigen Intendanten oder Orchesterleitern durchzusetzen.
Die FDP verharrte im Wesentlichen bei Absichtserklärungen:
„Neben eher traditionellen Kunstformen wie Malerei und Plastik,
ebenso Installationen (die zuständigen Künstler werden
sich für ihre Einordnung als traditionell bedanken, R.S.),
sollen auch innovative und experimentelle Kunstformen im musikalischen
und darstellerischen Bereich bessere staatliche Rahmenbedingungen
erhalten. Diese Kunstformen reflektieren eine aktuelle gesellschaftliche
Entwicklung und können Wegweiser für eine Problem- und
Zukunftsbewältigung sein. Mit der staatlichen Förderung
dieser Kunstformen sollen besonders Nachwuchskünstler und -künstlerinnen
die Möglichkeit erhalten, ihre künstlerische Tätigkeit
frei zu entfalten. Auch die wettbewerbsrechtliche Verbesserung der
Rahmenbedingungen für Künstler, Kulturvermittler und Kunstmarkt,
so etwa die Modernisierung des urheberrechtlichen Folgerechts, gehören
zu einer zukunftweisenden liberalen Kulturpolitik.“ Auch hier
mag jeder selbst entscheiden, wie bindend solche Aussagen für
effektive Maßnahmen sein werden.
Die PDS schließt sich in Bezug auf diese Frage an das Positionspapier
des Deutschen Komponistenverbandes aus dem Jahr 2000 an und verspricht,
sich für die dort formulierten Forderungen nachdrücklich
einzusetzen. Ergänzt wird: „Auch wir sind der Auffassung,
dass das Musikschaffen nicht ausschließlich von Marktmechanismen
bestimmt werden darf und dass insbesondere das zeitgenössische
Schaffen besonderer öffentlicher Förderung bedarf. Dabei
sollte aus unserer Sicht das gesamte musikalische Spektrum im Blick
sein und nicht nur die so genannte ernste Musik. Traditionelle Unterteilungen
in ernste und unterhaltende Musik sind angesichts der gegenwärtigen
vielfältigen, sich gegenseitig beeinflussenden und überlappenden
Musikszenen ohnehin wenig sinnvoll. Uns würde es um das jeweils
Neue, Ungewohnte, Experimentelle gehen, das unabhängig vom
Genre zu fördern wäre. Damit dieses Neue immer wieder
entsteht, bedarf es der Anreize – muss diese Musik auch gesendet,
aufgeführt und verkauft werden. Und die Erlöse für
die Komponisten sollten in einem angemessenen Verhältnis zur
kommerziellen Auswertung (besser wohl: Verwertung, R.S.) ihrer Werke
stehen.“
Popmusik, Rundfunkquote,
Theater- und Orchesterlandschaft
Kursorisch sei noch auf ein paar verstreute Äußerungen
zu anderen Themen im Bereich der Musik eingegangen. Zur Frage etwa
von Quoten in Rundfunksendungen zugunsten deutscher Popmusik äußern
sich die Parteien vorsichtig. Es geht von vorsichtiger Prüfung
des französischen Modells (mit Quoten) seitens SPD und den
Grünen über die Mahnung zu großer Vorsicht (PDS,
da sie mit solchen Reglementierungen in der DDR schlechte Erfahrungen
machte) bis hin zur klaren Ablehnung (CDU/CSU und wohl auch die
FDP). Zur Erhaltung von Theater und Orchesterlandschaft fallen die
Antworten selbstverständlich quer durch die Parteien positiv
aus, man verweist darauf, dass dies jedoch in erster Linie Aufgabe
der Kommunen sei, die SPD nimmt dabei die Gemeinden in die Pflicht,
CDU/CSU ergänzen mit dem Hinweis auf notwendige Änderungen
im Steuerrecht, um die Mittel zu sichern, die Liberalen denken auch
an eine Erleichterung der Stiftungsarbeit. Die PDS führt des
weiteren an, dass Theater und Orchester selbst beharrlich am vitalen
Interesse der Bürger an solchen Institutionen arbeiten müssen,
lenkt den Blick also auf die Inhalte. Zugleich fordert sie, dass
die stark anwachsenden Privatvermögen von Unternehmen wieder
verstärkt in solche Kanäle zu lenken wären.
Ein Punkt verdient noch der Erwähnung, der die schulische
Ausbildung betrifft. Hier hebt die CDU/CSU den Wert der musischen
Fächer für die gesamte Persönlichkeits- und Wissensbildung
explizit hervor, die Grünen lenken den Blick hin auf die vorschulischen
Bildungsangebote und ebenso fordert die PDS, „dass künstlerische
Schulfächer gegenüber den mathematisch-naturwissenschaftlichen
Fächern gleichrangig“ zu behandeln seien. In Bezug auf
diese Frage herrscht freilich weitgehend Konsens bei allen Parteien,
es fragt sich nur, warum diese Meinungen immer weniger in Lehrplänen
ersichtlich werden.
Insgesamt kann gesagt werden, dass die Beflissenheit der Beantwortung
durch alle Parteien eines kaschiert: in Fragen von kultureller Arbeit
innerhalb jeder Partei herrscht eine mehr oder weniger große
Unsicherheit. Man vertraut auf Initiativen vor Ort, die Künstler
werden sich auch in Zukunft immer wieder vehement selbst rühren
müssen, um ihre Interessen oder Initiativen durchzusetzen.
Das weitere dürfte immer wieder von wirtschaftlichen Wetterlagen
abhängig sein.