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nmz-archiv
nmz 2002/09 | Seite 52
51. Jahrgang | September
Nachschlag
Sex, Drugs and ...
Auch die neue musikzeitung kommt nicht umhin, sich in den Medienrummel
einzureihen, der jüngst über das Bundesjugendorchester
hereingebrochen ist. Und dieser ist erstaunlich: Wann hätte
schon mal die Bild-Zeitung über die verdienstvolle Arbeit des
BJO berichtet? Wie oft beschäftigen sich die Stuttgarter Nachrichten
mit diesem oder anderen Jugendensembles? Und wann haben die Bezieher
der Lippischen Landeszeitung jemals in ihrem Blatt über Deutschlands
jüngstes Spitzenorchester gelesen? Nun haben sie – und
wissen schon nach Lektüre des Eingangssatzes: „Professor
Franz Müller-Heuser ist sauer“. Dass eben derselbe bereits
viele Jahre lang glücklich über pädagogische und
musikalische Erfolge des Musikrats-Aushängeschildes ist und
diese Freude oft und gerne der Öffentlichkeit (auch den Medien)
mitgeteilt hat, blieb im Vergleich zu den jetzigen Ergüssen
bisher relativ unbeachtet. Auch focus-online und selbst der Spiegel
griffen die medienwirksame „story“ – lanciert
von der Presseagentur dpa – gerne auf.
Dem ewigen Medienmuffel sei an dieser Stelle erklärt, worum
es ging: Seine diesjährige Spanien-Tournee sollte das BJO mit
einem Konzert auf der Insel Menorca beenden. Dieses Konzert jedoch
fand nicht statt. Über die Gründe wurde heftig gestritten.
Version Nr. 1 (vertreten durch den BJO-Geschäftsführer
Volker Spicker und seinen Dirigenten Gerd Albrecht): Einen Tag vor
dem Konzerttermin wurde die Bühne mit einem schlecht riechenden
und dazu noch giftigen Lack neu gestrichen, so dass ein Auftritt
undenkbar gewesen sei. Version Nr. 2 (vertreten durch den Konzertveranstalter
und die stellvertretende Bürgermeisterin der betroffenen Stadt
Ciutadella): Die jungen Musiker hätten sich vor dem Konzert
sinnlos betrunken und seien nicht mehr in der Lage gewesen zu spielen.
Damit war die Story geboren: zunächst die Lokalpresse, dann
auch die überregionale Zeitung „El Mundo“ griffen
das Orchester scharf an. Von einer „Orgie von Sex, Drogen
und Alkohol“ war gar die Rede. Dies reizte nun auch die „deutsche
presse agentur“ und machte schließlich die Runde durch
die oben genannten und weitere Medien.
Uns sollen hier nicht die Einzelheiten interessieren. Ein offenes
Geheimnis ist es, dass junge Musiker (auch die des BJO) ihre Orchesterarbeitsphasen
gerne nutzen, um über die Stränge zu schlagen, auch in
punkto Alkohol. Kein Geheimnis aber ist es, dass gerade die Mitglieder
der überregionalen Ensembles (Bundes- und Landesjugendorchester)
ihre Musik in der Regel so ernst nehmen, dass sie niemals ein Konzert
gefährden würden. Volker Spicker versichert denn auch
glaubwürdig, den Veranstaltern eine Verlegung des Konzertes
in andere Räumlichkeiten angeboten zu haben. Aber davon wollten
diese nichts wissen.
Uns interessiert die medienpolitische Lehre, die wir aus diesem
Ereignis ziehen können. Jugendorchesterleiter oder -organisatoren,
die seit Jahren eine wichtige und kontinuierliche Arbeit im Bereich
der musikalischen (und sozialen!) Bildung leisten, glaubten bisher,
die begrenzten Möglichkeiten ihrer – meist erfolglosen
– Öffentlichkeitsarbeit ausgeschöpft zu haben. Haben
sie nicht! Die musikalische Leistung gerade der Spitzenorchester,
das Engagement der Jugendlichen, die ehrenamtliche Arbeit der Verantwortlichen:
Wer wollte darüber in der Zeitung lesen?
Jedem Orchesterleiter ist es nun selbst überlassen, wie er
mit der BJO-Erfahrung umgeht, ob er zukünftig ähnliche
oder – noch besser – neuartige Skandale lanciert, um
sich den lang gehegten Wunsch einer angemessenen Beachtung durch
die Medien endlich zu erfüllen. Der Phantasie sind dabei keine
Grenzen gesetzt. Fest steht allerdings: Sex und Alkohol ziehen meistens!
Immerhin: Die Berliner Redaktion der Bild-Zeitung ließ dem
„Skandal“-Artikel wenige Tage später einen weiteren
folgen. Dieser berichtete vom Erfolg des BJO beim Jugendorchester-Festival
„Young Euro Classic“ in Berlin. Vom „umjubelten
Konzert für den Musiker-Nachwuchs“ war hier die Rede,
von der Opferbereitschaft der jungen Musiker, die ihre Freizeit
in die Orchesterarbeit investieren. Eine Wiedergutmachung? Oder
gar erstes Anzeichen für einen Bewusstseinswandel der Massenmedien?
Schön wär’s. Wir sagen: Bravo, Bild-Zeitung! Und
vielleicht zieht ja RTL 2 bald nach.