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nmz-archiv
nmz 2002/09 | Seite 28
51. Jahrgang | September
Pädagogik
Die Klänge eines belauschten Schulwegs
Hamburgs Kinder sind zu einer Reise in die Musik des 21. Jahrhunderts
aufgebrochen
Im vorvergangenen Schuljahr hat der Hamburger Landesmusikrat (LMR)
ein ungewöhnliches Projekt mit dem Titel „Eine Reise
in die Musik des 21. Jahrhunderts“ ins Leben gerufen. Sein
Ziel ist es, den normalen Musikunterricht durch eine praktisch orientierte
Zusammenarbeit von Komponisten und Jugendlichen in der Schule zu
ergänzen. Auf diese Weise sollen aktiv Berührungsängste
und Vorurteile abgebaut werden. Den Anstoß für die Entwicklung
der Idee gab eine Mitgliederbefragung, die das Präsidium des
LMR vor vier Jahren durchführte, um herauszufinden, welche
inhaltlichen Schwerpunkte in der zukünftigen Arbeit des Gremiums
eine vorrangige Rolle spielen sollen. Sie zeigte, dass neben anderen
Punkten vor allem auch ein starkes Engagement für die Neue
Musik gewünscht wird.
In Zusammenarbeit mit dem Hamburger Komponisten Burkhard Friedrich
entwickelte man daraufhin das Konzept für die „Reise“:
Der LMR vermittelt einen Kontakt zwischen interessierten Lehrern
(sowie deren Klassen) einerseits und Komponisten/-innen andererseits
und initiiert so eine möglichst handfeste und untheoretische
Begegnung der Schüler mit Neuer Musik.
Nach einem erfolgreichen Testlauf im Herbst 1999 traten die „Reise“-Vorbereitungen
dann Mitte 2000 in ihre heiße Phase: Eine Jury sichtete die
Bewerbungen, die auf die Ausschreibung hin eingegangen waren und
stellte 13 Paare zusammen. Unter anderem wurde dabei eine Kooperation
von Hans-Joachim Hespos mit dem Musik-LK des Gymnasiums Grootmoor
im Norden Hamburgs und dessen Lehrerin Cornelia Lüttgau angeregt,
aus der das künstlerisch anspruchsvollste Projekt des ersten
Jahres hervorging: In mehreren Probenwochenenden entstand hier ein
Stück, das die Grenzen zwischen Musik, Theater und Pantomime
bewusst verwischte und bei dessen Aufführung neben 120 Schülern
aus verschiedenen Klassenstufen auch große Teile des Publikums
unvorbereitet mitwirken mussten.
Mit Beginn des Schuljahres 2001/02 ging die „Reise“
dann in ihre zweite Runde. Bei der Auswahl der neuen Projektpaare
legte die Jury besonderen Wert auf eine nach sozialen und geografischen
Gesichtspunkten ausgewogene Verteilung, wie die verantwortliche
LMR-Geschäftsführerin Ute Hermann betont: „Es war
uns sehr wichtig, dass wir nicht nur die Schulen berücksichtigen,
die sowieso schon gut mit Musik ausgestattet sind. Wir wollten vielmehr
unbedingt an Schulen gehen, die vielleicht auch eine schwierige,
multinationale Schülerschaft haben und die aber trotzdem mit
ganz engagierten Schulmusikern bereit waren, einen ganz neuen Weg
auf der ‚Reise‘ zu bestreiten.“
So fand etwa die erste Kooperation des zweiten Jahres an der Gesamtschule
in Mümmelmannsberg statt – einem im Osten Hamburgs gelegenen
Stadtteil, der als besonders schwieriger „sozialer Brennpunkt“
gilt. Hier war der Wiener Komponist Karlheinz Essl in einer 11.
Klasse zu Gast, um das Stück „downside up – outside
in“ einzustudieren. Dabei waren die Schüler angehalten,
in vier verschiedenen Gruppen bestimmte Klänge auszuführen,
die mit Alltagsgegenständen erzeugt wurden: Mit Schneebesen,
die unterschiedlich schnell im Kochtopf gerührt werden und
so ein maschinenartiges Rauschen erzeugen; mit reisgefüllten
Getränkedosen oder quietschenden Luftballons. Die Abfolge dieser
Klänge wurde dann in der Endfassung von computergenerierten
Lichtsignalen gesteuert.
Wie nicht anders zu erwarten, begleiteten die eher Hip-Hop-orientierten
Kids dieses etwas andere Musikerlebnis zunächst einmal mit
einigem Gekicher. Doch als vier Mädchen nachmittags die Gelegenheit
hatten, alleine mit den unterschiedlichen Klangmöglichkeiten
von Waschbrettern zu experimentieren, entstand plötzlich eine
intime Atmosphäre des aufmerksamen Zuhörens, der musikalischen
Kommunikation. Und genau darum ging es ja auch in erster Linie,
wie die Musiklehrerin Dorothea Kaufmann sagt: „Ziel der Aktion
war es nicht, das alles zur Lieblingsmusik der Schüler zu machen,
sondern ihre Ohren für Neues zu öffnen und eine Sensibilität
für andere Klänge zu wecken.“
Einige Kilometer weiter westlich, im Luruper Goethe-Gymnasium,
widmete sich auch Burkhard Friedrich diesem Anliegen: Nach seiner
Vorgabe hatten die zehn Mitglieder des dortigen Musik-LK ihren Schulweg
mit dem Kassettenrekorder belauscht und versuchten nun, die aufgezeichneten
Sounds wie Flugzeuglärm oder Autobahngeräusche möglichst
genau zu notieren, um sie anschließend mit Instrumenten nachzuahmen.
In rund 20 Schulstunden gemeinsamer Arbeit wurden die Imitationen
allmählich so weit verfeinert, dass Original und Fälschung
in der zwölfminütigen Endfassung von „sound copies“
kaum noch zu unterscheiden sind.
So wie hier hat die Auseinandersetzung mit einer ungewohnten Klangwelt
vielerorts eine gewachsene Offenheit dem (nicht nur musikalisch)
Neuen und Fremden gegenüber erzeugt. Doch obwohl der hohe pädagogische
Wert dieser Bildungsreise vollkommen außer Frage steht, ist
ihr Fortbestehen im nächsten Jahr aus finanziellen Gründen
stark gefährdet. Wolfhagen Sobirey, Präsident des Hamburger
LMR, sieht jedenfalls eher schwarz: „Bisher zeichnet sich
ja keinerlei Grundlinie einer Kulturpolitik in Hamburg ab. Wir werden
natürlich wieder vorstellig werden und darauf hinzuweisen versuchen,
wie kostbar das Projekt ist, aber was demnächst hier möglich
sein wird, das steht bisher in den Sternen.“