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nmz-archiv
nmz 2002/09 | Seite 43
51. Jahrgang | September
Jazz, Rock, Pop
Anjaka: Wer fliegen will muss hören
Denn sitzen bleiben wird schwierig bei diesem Album
O-Ton eines „Runden Tisches”: „Wir brauchen Neues,
Aufregendes. Einen neuen Sound. Ein neues Gesicht. Irgendwas mit
Pop. Aber frischer. Innovativer. Keine Alanis-Morissette-Kopie.
Einen eigenen Kopf soll sie haben. Eigene Ideen. Auf keinen Fall
aber zu kommerziell. Eine starke Frau. Mit Power. Und guten Songs”.
So klingen die revolutionären Gedankenstürme in austauschbaren
Meetings, Konferenzen oder Creative Pools in plattenvervielfältigenden
Unternehmen, wenn es um neue Strategien, Marketing- Konzepte oder
Tools geht. Unwesentlich weniger ausphrasiert philosophieren Radioredakteure
und Printredakteure. Einfach mal fordern. Um etwas gesagt zu haben.
Ein Lebenszeichen von sich gegeben zu haben. Aus dem Format-Off.
Aus den Redaktionen. Oder den A&R-Intensivstationen der gebrannten
Kinder. Den Frauen und Männern kann geholfen werden. Weg von
der Null-Linie. Hin zum Bluthochdruck.
Anjaka (Anja Krabbe, 28) heißt die neue Medizin. „Anjaka”
heißt das Album. Zwölf tief gängige, herzschürfende
Lieder. Gitarren, Samples, Rocksongs, Balladen. Im Strom der Zeit,
aber nicht stromlinienförmig. Texte, die aus der eigenen vernarbten
Seele sprechen. Melodien, die zum besten Flugbegleiter aller Zeiten
avancieren. Weil Fliegen wichtig ist. Für Anjaka. Für
das Album. Und dabei entdeckt man den eingebetteten, zementierten
und manifestierten Sound, den die zuvor erwähnten Gefährten
der Innovation gesucht haben: Gefühls- und Melodieelektronik
ohne sich auszuschließen. Und eine Künstlerin, die Inhalte
transportiert, ihnen Flügel verleiht.
Als Kind war Anjaka der festen Überzeugung, fliegen zu können.
Kann sie auch. Davon überzeugt einen dieses Album. Wenngleich
der Fluggedanke eher einer Metapher entspricht. „Ich finde
es schade, dass viele Menschen mit dem Erwachsenwerden ihre Träume
und ihren Glauben verlieren und Songs nach dem Motto ’Ach
könnte ich nur fliegen‘ schreiben. Mir geht es darum,
diese Selbstverständlichkeit und diese Fantasie, die man irgendwann
ja mal besitzt, zu erhalten”. Und höchstwahrscheinlich
an einen Kindheitstraum anzuknüpfen. Den Anjaka in Ansätzen
hatte. Denn Prinzessin wollte sie werden. Ging nicht. Ersatz musste
her. „Ich dachte Popstar zu werden ist eine adäquate
Ersatzlösung. Mit sieben lernte ich Gitarre und von da an war
klar, dass Musik sehr wichtig in meinem Leben sein wird.“
Und so ist die Dreiteilung Anjakas unumgänglich. Person, Musik,
Text. Wobei diese Pyramide nicht im Schneeball-System funktioniert.
Anjaka sieht folgende Handlungsstränge im Dreiakter: „Der
Anstoß zu den Songs entsteht durch ein Gefühl oder eine
Beobachtung. Dazu entsteht im Kopf ein Film. Anschließend
schreibe ich. Ich fahre und laufe eigentlich ständig durch
die Gegend und schreibe diese Ideen, Texte und Geschichten auf.
Später kristallisieren sich die Geschichten heraus, die ich
erzählen möchte. Das hängt sich an einem Wort oder
Platz auf. Dann greife ich zur Gitarre oder zum Keyboard und beginne
das in ein Lied zu verwandeln.“ Mit Gefühlen, die elektronische
Unterstützung bekommen. Aber warmherzige, nicht opulente. Zusammen
mit Derek von Krogh (Produzent) arbeitet Anjaka ihre „raschen
Demos” zu rauschenden Songs aus. „Obwohl es gar nicht
so einfach war, Derek von Krogh als Produzenten durchzusetzen”,
fügt Anjaka hinzu. „Dereks Wände sind eben noch
nicht mit goldenen Schallplatten tapeziert und eine etablierte Plattenfirma
greift in derartigen Fällen doch schon mal gern auf Erfolgsgaranten
zurück”. Hat sie nicht. Dafür sollte man der Plattenfirma
dankbar sein. Anjakas Intention, Geist und Inspiration blieben unberührt.
Und so fügen sich Person und Musik zum abschließenden,
harmonischen Textbeitrag. Nie wurden Zeilen wie „Ich finde
Dich so schön wenn Du weinst” erbarmender, finaler und
betreffender vorgetragen. Eben weil Text und Melodie eine Flut der
Gefühl-Bestandsaufnahme verursachen und Themen auf den Punkt
bringen. „Mir ist es ein Anliegen, auf Themen wie Gewalt und
Missbrauch in Familien hinzuweisen. Problematiken, die häufig
totgeschwiegen werden. Ich bin gelangweilt von der ewig gleichen
Sülze im Formatradio. Noch dazu kenne ich Menschen, denen Missbrauch
widerfahren ist. Das ist eines der größten Probleme,
das gedeckelt und verschwiegen wird. Ich möchte keineswegs
dazu auffordern, sich aus dem Fenster zu stürzen, wie das beim
Song ’Doch ihr Lächeln war da‘ der Fall ist. Vielmehr
möchte ich erreichen, dass darüber gesprochen wird, dass
man sich mitteilt.“ Als Großstadtkind und Berlinerin
kennt Anjaka diese Problematiken sehr genau. Und sie liebt jene
Großstädte, deren geballte Ladung an Energie und die
dazugehörigen Konflikte. „In einem Dorf auf dem Land
würde ich durchdrehen.“ Deswegen zog sie von Berlin nach
Hamburg und nicht nach Delmenhorst. Und spricht nicht nur über
Themen, sondern handelt. Als Patin des Projektes „Off Road
Kids” setzt sie sich für Straßenkinder ein. „Ich
habe ein 17-jähriges Mädchen aufgenommen, die bei mir
wohnen konnte, bis sich ihr Leben wieder normalisiert hatte. Durch
meine Musik möchte ich als Künstlerin natürlich auch
Hoffnung vermitteln.“ Motivation für dieses Engagement
war auch die Tatsache, dass Anjaka ihren Beruf als Musikerin sehr
wohl richtig einzuschätzen weiß: „Ich empfinde
diesen Beruf als sehr luxuriös. Ich kann mir Geschichten ausdenken,
herumspringen, nächtelang wach sein und mit meinen Freunden
unterwegs sein. Und bekomme dafür noch Geld. Es ist einfach
ein Traumberuf.“