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nmz-archiv
nmz 2002/09 | Seite 20
51. Jahrgang | September
Portrait
Lecker Sachen – gegen Depression und Dummheit
Volksnahe Raps mit Texten aus dem Alltag mit unkonventionellen
Instrumenten
Die Branche stöhnt und jammert, der eintönige Dudelfunk
dudelt, neue Künstler finden kaum noch öffentlichen Raum,
nichts geht mehr. Ganz Germanien ist von Depression und Dummheit
besetzt. Ganz Germanien? Nein, eine kleine unerschrockene Gang leistet
erfolgreichen Widerstand im altrömischen Dorf Collonia Agrippina.
Aber lesen Sie selbst...
Mal nicht rappend, sondern
diskutierend: Markus Brachtendorf bei der Radiosendung „Contrapunkt“,
einer Koproduktion von BR und MDR. Foto: S. Lieberwirth
Als vor vielen Jahren Jugendliche erstmals Bands wie die Beatles
oder die Stones zu hören bekamen, da soll es ähnliche
Stürme in den Konzertsälen gegeben haben. Hier war nun
der Ort eher unpassend, das gesamte Zeremoniell ausgerechnet in
einem pädagogischen Zusammenhang, alles eingebunden in einen
feierlichen Auftakt von hohem missionarischen Wert. Anwesend dabei
Persönlichkeiten aus Pop und Politik, die zwar auf die emotionale
Kraft der Musik setzen wollten, aber selbst nicht genau wussten,
was geschehen würde, wenn man den Deckel vom kochenden Topf
nimmt. Im Hintergrund des Infernos blickte daher die Kultusministerin
des Landes leicht irritiert in den Saal, der Schulleiter rieb sich
Augen und Ohren und selbst die Organisatoren der Veranstaltung zeigten
sich von derartiger Resonanz schwerstens überrascht. Mehr als
200 Schüler tobten am Bühnenrand, sprangen sich wie bei
Reiterkämpfen gegenseitig auf die Schultern, jubelten und klatschten
und schrien – und verlangten mehrere Zugaben in ihrer Aula,
die nun keine mehr war. Auf der Bühne beherrschten junge Musiker
solch unterschiedliche und in der Popwelt selten gewordene Instrumente
wie Mandoline, Geige, Schlagzeug und Bass. Der Sänger rappte
volksnah mit Texten aus dem Alltag und benutzte nebenher eher unkonventionell
diverse Flöten. Das alles kam durchaus gefällig daher,
in den Songs erkannte man unschwer Leidenschaft und Lust auf Musik.
In der Aula der Gesamtschule Brachenfeld in Neumünster (Schleswig-Holstein)
hatte soeben die Deutsche Phono-Akademie ein Feuerwerk abgebrannt,
die sich damals – vor vier Jahren – entschlossen hatte,
Deutschlands Schülern ein klein wenig musisch-kreativen Spaß
zurückzugeben. Lange vor PISA hatte das Kulturinstitut der
Musikwirtschaft beschlossen, dem Verfall des Musikunterrichts an
den Schulen pure Musik und einfache aber wirkungsvolle Projekte
und Programme entgegen zu setzen. So war dies ein Auftakt nach Maß.
Dabei waren Bands wie Kind of Blue, das Jazz-Quintett der Hamburger
Hochschule für Musik und Theater, die Klassikpianistin Beatrice
Bernhardt und die bereits in ihrer Wirkung auf das junge Publikum
beschriebenen Lecker Sachen aus Köln. Letztere waren insofern
der gute Stern vom Rhein, der über der Initiative „MachtMehrMusik/Schule
braucht Musik“ aufging. Mit Lecker Sachen hatte man jene Faszination
für Musik auf die Bühne gestellt, die man sich stets wünscht,
die sich aber nicht verordnen lässt. Lecker Sachen sind independent,
im Februar soll das nächste Album (das dritte) erscheinen.
Sie haben sich das Jigit!-Team beziehungsweise Jigit Records als
Label und Agentur für Booking und Promotion geschaffen, soeben
in ihrem Widerstandsnest die Single/Remix-EP mit Videoclip-Präsentation
„Wir sind für die Leute da“ veröffentlicht
und sich damit endgültig für die Oberliga angemeldet.
Lecker Sachen sind Markus „Herr Be“ Brachtendorf (Gesang,
Mandoline, diverse Flöten), Prinzessin Elise (Geige), Ingo
Stern (Schlagzeug) und Christoph „Meister Fader“ Stoll
(Regler, Mixer, gehört zur Band). Seit jenem legendären
Schulauftritt entwickelten sie sich konsequent weiter. Sie mischen
Folk-Ethno, Pop und Tradition im eigentümlichen Verbund und
auch mit anderen Künstlern. Zehn weiteren Acts mit dieser antizeitgeistigen
Gesinnung haben sie auf ihrem Label Veröffentlichungen ermöglicht.
Sänger Markus Brachtendorf merkt im Gespräch mit der nmz
an, dass „wer aus der HipHop-Hörtradition kommt, der
mag Lecker Sachen als Weiterentwicklung empfinden, wir sind aber
weder HipHop-Act noch Folkband“. Ihr munterer Crossover ist
sinnvoll, weil er keine Schubladen akzeptiert und sich lediglich
neuen musikalischen Erkenntnissen verpflichtet fühlt. Jugend
forscht. Markus Brachtendorf: „Rap hat als Bestandteil von
HipHop große Auswirkungen. In den letzten Jahren hat das viele
sozialisiert. Unsere Musik ist aber die Summe aus verschiedenen
Elementen, die für uns populäre Musik ausmachen.“
Inzwischen werden auch die Majors hellhörig. Bei Universal
Publishing unterschrieb man einen Verlagsvertrag, das Label Jigit
wiederum vertreibt über Bellaphon. Die aktuelle Single versteht
sich klar als Anrempler gegen die Hamburger Schule und die Berliner
Luft. Die Kölschen Eigenbrötler bemängeln, dass ihre
Stadt höchstens bei Karneval noch im Gespräch sei, die
Bedeutung dieser musikalischen Region ansonsten zu wenig thematisiert
würde.
Nun erinnert man sich ausgerechnet in Umbauzeiten an alte Aufbauzeiten,
das Presseinfo ziert folgender Satz: „Lasst uns unser Köln
wieder aufbauen! – Josef Kardinal Frings, 1887 – 1978“.
Brachtendorf erklärt dies so: „Der Bischof Frings war
volksnah und deshalb so beliebt bei den Leuten. Die vier Acts auf
unserer Platte sind sehr unterschiedlich, Ska, Folk, Reggae, HipHop
– das spiegelt neben der Elekt-ronik die Kölner Szene
wider.„ Und mit der will man gemeinsam aufbrechen und es unter
anderem der Berliner Mitte zeigen. Begleitet wird dies von heftiger
Kritik an Um- und Zuständen. Aus Köln schallt es mit Brachtendorf
heraus: „Die Musikbusiness-Misere kann ich so nicht nachvollziehen.
Man mosert an den Konsumenten herum, nimmt das Publikum aber nicht
ernst, es soll funktionieren. Musik-Marketing darf keine Hundedressur
sein, über die Konsequenzen darf man sich dann nicht wundern.“
Brachtendorf organisiert die linksrheinische Revolte mit Slogans
wie „Basisnahrungsmittel Musik“, „Reaktion auf
die Konditionierung im Medienmusikgeschäft, welches den Fans
den Geschmack diktieren will“. Um dann Fazit zu ziehen: „Auf
unseren Konzerten wird der Unterschied klar: kein simpler Event,
keine CD, die einfach in den Plattenspieler geschoben wird, Musik
ist bei uns ein Erlebnis.“ Und weil die kritisierte Industrie
auch mal Bündnispartner gegen den grauen Alltag sein kann,
ist man demnächst dann trotzdem schon wieder dabei. Auf der
geplanten „SchoolTour“ der Deutschen Phono-Akademie,
die die wohldosierte Anarchie dann erneut von Aula zu Aula tragen
will.