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nmz-archiv
nmz 2002/09 | Seite 26
51. Jahrgang | September
Bücher
Die Opernpartitur als Beigabe
Schrekers „Ferner Klang“ in neuer Analyse
Ulrike Kienzle: Das Trauma hinter dem Traum. Franz Schrekers
Oper „Der ferne Klang“ und die Wiener Moderne.
Edition Argus 1998, 431 S. + 16 S. Motivtafel + 447 S. Studienpartitur;
ISBN 3-931264-04-1, € 51,-
Schon einmal war Franz Schrekers erste Oper, zu der er in Personalunion
als Komponist und Dichter auftrat, „Der ferne Klang“,
Objekt einer musikologischen Untersuchung, die als Band 17 der Studien
zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 1972 im Regensburger Gustav
Bosse Verlag erschienen war: der österreichische Komponist
Gösta Neuwirth, der sich bereits in einer Monografie für
Schrekers damals so gut wie völlig vergessenes Œuvre stark
gemacht hatte, analysierte in seiner Dissertation „Die Harmonik
in der Oper ,Der ferne Klang‘“. Seiner Untersuchung
der funktionalen Harmonik und funktional nicht bestimmbarer Partien
war als Anhang unter anderem die Erstveröffentlichung der Klavierauszug
zur später gestrichenen Durchführung des Nachtstücks
beigegeben. Ein gutes Vierteljahrhundert später war Schrekers
Oper erneut Forschungsgegenstand der Musikwissenschaft: Ulrike Kienzle
promovierte über „Das Trauma hinter dem Traum“.
Diese Neuerscheinung setzt in jeder Hinsicht neue Maßstäbe,
denn es handelt sich um drei Editionen in einer. Mit ihrer erweiterten
Fassung der Dissertation beschreitet Kienzle einen neuen Weg zum
Fernen Klang. Ihre Deutung des Schlüsselwerks der Wiener Moderne
unter Einbeziehung der Psychoanalyse lenkt den Blick auf den geistigen
Horizont des Komponisten, scheut sich bei der Metamorphose des romantischen
Symbols der Harfe nicht vor metaphysischen Implikationen, beschäftigt
sich mit Musikwerdung aus dem Unbewussten, mit „Traumarbeit“
und Inspiration und Schrekers Psychologisierung der dramatischen
Ausdrucksmittel. Psychologischer Perspektivismus wird angewandt
auf die Struktur der Musik, so erfährt die Waldszene des ersten
Aktes eine Deutung als „musikalisches Psychogramm an der Schwelle
zum Jugendstil“. Kienzles Analyse von Montage und Collage
definiert das Vorspiel zum zweiten Akt als „akustischen Irrgarten“.
Anhand von zahlreichen Bezügen zur bildenden Kunst –
zu Klinger, Klimt, Hodler, Koloman Moser und Alfred Roller –
wird Schrekers artifizieller, musikübergreifender Ansatz deutlich,
etwa sein Spiel mit dem Spiegelbild, die spiegelbildlichen Symmetrien
von Musik und Dramaturgie. Für die Hauptfiguren der Oper, den
Komponisten Fritz und seine gesellschaftlich zur Straßendirne
absinkende Geliebte Grete erfüllt sich hinter ihren Träumen
das Trauma der Vergeblichkeit.
Ulrike Kienzles interdisziplinäre Arbeit ist fundiert und
präzise, ihre Erkenntnisse sind gut lesbar und exakt belegt.
Als eigenes Heft ist der Dissertation eine separate Motivtafel mit
31 Motiven und ihren Varianten beigefügt. Und geradezu sensationell
ist die zweite „Beigabe“: zur Überprüfung
ihrer analytischen Befunde ist die Studienpartitur der Oper im DIN
A4-Format beigegeben. Dieser Veröffentlichung – eine
Reproduktion der Autografie aus dem Jahre 1912 – ist umso
mehr Bedeutung beizumessen, als Schrekers Orchesterpartitur bisher
im Handel nicht erhältlich war.