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nmz-archiv
nmz 2002/09 | Seite 26
51. Jahrgang | September
Bücher
Polarität und Versöhnung
Zu Brigitte Schäfers Buch über Giselher Klebes Oper
„Jacobowsky und der Oberst“
Brigitte Schäfer: Die Oper „Jacobowsky und der
Oberst“ von Giselher Klebe nach einem Bühnenstück
von Franz Werfel. Analytische Betrachtungen, Verlag Peter
Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am
Main 2000
Die musikwissenschaftliche Literatur ist nicht gerade reich an
Opern-Monografien, schon gar nicht, wenn es um Werke nach 1945 geht.
Die Komponistin und Musikwissenschaftlerin Brigitte Schäfer
hat jetzt eine Dissertation vorgelegt, die auf diesem Feld Beachtung
finden sollte, weil sie zum einen den manchmal angezweifelten Sinn
von musikalischen Strukturanalysen verdeutlicht und zum anderen
die operndramatischen Möglichkeiten der Dodekaphonie nach Alban
Berg und Arnold Schönberg plastisch vor Augen führt.
Der Untersuchung zu Grunde liegt die Oper „Jacobowsky und
der Oberst“ von Giselher K1ebe nach einem Bühnenstück
von Franz Werfel. Es handelt sich bei diesem Auftragswerk der Hamburgischen
Staatsoper aus der Ära Rolf Liebermanns, das für eine
Darmstädter Aufführung leicht überarbeitet wurde,
um eine Literaturoper, in der, verkürzt gesagt, Judentum und
Christentum in den Problemfeldern von Nazi-Regime und Zweitem Weltkrieg
miteinander konfrontiert werden.
Mit ihrem Buch schuf Brigitte Schäfer mehr als eine Hommage
an ihren Kompositionslehrer Giselher Klebe. Ihre fundierte Kenntnis
der Kompositionstechnik und der ästhetischen Ziele Klebes wirken
sich äußerst positiv auf die Erschließung und Durchleuchtung
ihres Untersuchungsgegenstandes aus. Geradezu bewundernswert ist
die wissenschaftliche Akribie, das philosophische und psychologische
Hintergrundwissen und die Sensibilität fürs Detail, mit
der Brigitte Schäfer ihre Analysen und Auswertungen betreibt.
So scheut die Autorin nicht vor mikroskopischer Feinanalyse zurück
und dringt in die Tiefenschichten der Partitur ein. Ihre Erforschung
zeitigt damit beeindruckende Ergebnisse in Bezug auf Analogien von
Musik und Handlung, die sich freilich nicht in platten Inhaltszuordnungen
erschöpfen. Stattdessen werden komplexe strukturelle Verknüpfungen
und eine atemberaubende Vielschichtigkeit der Deutungsmöglichkeiten
aufgedeckt.
Alle Charakter-, Handlungs- und Musikanalysen werden auf den Kernbegriff
der „Polarität“ bezogen und auf die durch sie entstehenden
Spannungsfelder. Musikalisch entfaltet sich die „Komödie
einer Tragödie“ (Werfel) mit einem halboffenen, quasi
auf Hoffnung beruhenden Schluss, in strenger Durcharbeitung.
Zentrales Kapitel ihres Buches ist das Vierte: „Die Besonderheiten
der Leitmotivtechnik Klebes“. Hier öffnet Schäfer
den Blick für den Kosmos eines schier unerschöpflichen
Beziehungsgeflechts sowohl der Reihen untereinander als auch der
Permutationsvarianten einer einzigen Reihe sowie der Reihen mit
der g-Moll-„Leitmelodie“ (Klebe). Mindestens ebenso
wichtig wie die Menge der Material-Varianten wird für das psychologische
Moment der Musik die Anwendung von „leitmotivischen Figuren“,
ein von der Autorin eingeführter Begriff, der die Verknüpfung
der Reihentechnik mit bestimmten wiederkehrenden rhythmischen, akkordischen
und diastematischen Phänomenen meint. Hier mag das Geheimnis
verborgen liegen, wodurch die mathematisch-konstruktive Seite der
Struktur ihren Ausdrucks- und Affektgehalt, aber auch ihre psychologische
Tiefe erhält. Das Kalkulierte der Partitur ist kein Selbstzweck,
sondern durch ästhetische Kriterien kontrolliert. Brigitte
Schäfer weist nach, dass „die Reihengebilde sowie von
der g-Moll-Melodie abgeleitete Erscheinungsformen in permanentem
Einsatz stehen, wobei Klebe grundsätzlich nach streng selektiven
Prinzipien verfährt“ (S. 234). Die Entscheidung über
die jeweiligen selektiven Mittel „dient immer dem höheren
Zweck der Ausdeutung und Vertiefung des jeweiligen Sinninhalts der
Textvorlage wie auch der Herstellung übergreifender Bezüge
und ahnungsvoll-hintergründiger Hinweise“ (ebd.).
In einem letzten Schritt der Untersuchung erfolgt die Zusammensetzung
des Puzzles: Das Ergebnis der Mikroanalyse wird übertragen
auf den großen Bogen, speziell auf die unterschiedlichen Aspekte
der „Polarität“ in der Oper. Dies beginnt bei der
Großanlage des Sujets’ das zwischen Komödie und
Tragödie changiert, und setzt sich bis in die kleinsten Verästelungen
der protagonistischen und musikalischen Beziehungen fort.
Der dramatische Kulminationspunkt am Schluss liegt in der Versöhnung,
der die Gegensätze ohne Groll, in gegenseitigem Verständnis
stehen lässt. Wenn am Schluss Marianne und der Oberst zugunsten
Jacobowskys auf eine gemeinsame Flucht verzichten, so wird mitten
in der Welt von Hass und Ichsucht eine Enklave der Gegensätze
überwindenden Liebe erkennbar als Urquell eines wirklichen
individuellen wie globalen Friedens – zweifellos ein Thema
von permanenter Aktualität.