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nmz-archiv
nmz 2002/09 | Seite 21
51. Jahrgang | September
Rezensionen
Moden und Trends, Skurriles und Wegweisendes
Die bemerkenswerten Wiederveröffentlichungen des Münchner
Labels „Jazz Music Today“ (JMT)
In den 1980ern verflüchtigten sich einige Jazztrends. Junge
Musiker hoben die losen Stränge des Bebop, der JazzRockFusion,
des urbanen Blues und der europäischen Neuen Musik auf, um
daraus eigene Konzepte zu knüpfen. Einige von ihnen hatte Stefan
Winter, als er Volontär beim Münchner Label Enja war,
kennengelernt: „Drei Personen waren für meine Interessen
wesentlich: die Altsaxophonisten Steve Coleman und Tim Berne und
der Schlagzeuger Paul Motian, die alle moderne Handschriften des
Bebop entwickelt haben.“ Aus diesen Kontakten entstand das
Projekt, „Jazz Music Today“ (JMT). Weil JMT sich als
Unterlabel von Enja nicht behaupten konnte, beschloß Stefan
Winter, sich selbständig zu machen. Von 1985 bis 1995 konnte
er 81 JMT-Produktionen herausbringen, die bei Polygram (USA) vertrieben
wurden. Die JMT-Rechte musste Stefan Winter zunächst abtreten,
konnte sie aber zurückkaufen. Bis September 2005 wird der komplette
Katalog digitally remastered und wiederveröffentlicht.
Bisher sind 18 CDs der JMT-Serie erschienen, und offenbar hatte
Stefan Winter eine Spürnase für kreative Musiker in der
New Yorker Szene. Cassandra Wilson zum Beispiel begann hier ihre
Karriere zum glänzenden Star am Jazz-Vokalhimmel. Ihr Repertoire
strebte zum Blues und Rock, und Jazzstandards wie die wilde Version
„Let’s face The Music“ (12) von Irving Berlin
befestigten ihren Ruf als vielseitige, stilsichere Sängerin.
Die Besetzung ihrer Band spiegelt eine gewisse Kontinuität
der Labelpolitik. Das stabile Bass/Drums-Gespann Lonnie Plaxico
und Mark Johnson gehörte auch zu „Steve Coleman &
5 Elements“, umgekehrt war Cassandra Wilson öfter Gast
in dieser Band. Gerade die Alben von Steve Coleman verweisen auf
die damalige Umbruchstimmung, denn „Motherland Pulse“
(01) schwankt zwischen sehr unruhigem Hardbop und Jazzrock mit raffinierten
Kicks. Die Stücke sind in sich solide, ja durchaus extravagant
wie die weiten Vokalintervalle in „No Good Time Fairies“.
Die Energie zu Neuem hat dann bei „On The Edge Of Tomorrow“
(05) und „World Expansion“ (10) nachgelassen.
Zwar gibt es auch hier treibende funky beats, doch manche Soli
wirken eher nebenbei. Bis auf den supervirtuosen Basstrip in „And
They Partied“. Steve Coleman schielte zu sehr auf den Erfolgssound
von Herbie Hancock.
Noch nicht prominent war Gitarrist Bill Frisell, aber er hatte
bereits originelle Sounds für Stefan Winters „The Little
Trumpet“ (07), ein swingendes Jazzepos und Hörspiel für
ein Oktett unter anderem mit Posaunist Robin Eubanks. Frisell gehört
heute zur Elite, ebenso wie Drummerin Terry Lyne Carrington, die
1988 für Saxophonist Greg Osby „And Sound Theatre“
(11) trommelte. Abstrakter Freebop à la Braxton und ein harmloser
Flirt mit japanischer (Koto-) Musik und Poesie schweiften ziellos
zum World Jazz. Grob war der „Jungle Cowboy“ (09), der
gern in Latin-Jazz-Rock-Gefilden stöberte. Doch Gitarrist Jean-Paul
Bourelly wird den Schatten Jimi Hendrix nicht los.
Mehr Selbstbewusstsein hatte Tubaspieler Bob Stewart mit seiner
„ First Line“ (14). Harter, erdiger Rockbeat und darüber
eine klare Basslinie treiben die Ereignisse voran. Multiphonics
und andere Effekte mildern die Tubawucht. Peppig und schräg
sind die Arrangements, so dass Traditionals und Blues, Marsch und
Hardbop ihre jeweils dunkle Klangschminke bekommen.
Zornig und scharfsinnig war (und ist) Posaunist Craig Harris.
Seine Botschaft war klar „Shelter“ (08), das heißt
Obdach für alle Unterdrückten: „Africans Unite“
hat fast Popqualitäten, so schön ist die Melodie. Doch
Craig Harris machte nur bedingt Zugeständnisse, denn er rebellierte
gegen Konventionen. Ob an der Posaune oder am Didgeridoo, seine
Wut entlud sich in polyphonen, leidenschaftlichen Kompositionen,
er probierte wie Charles Mingus den aufrechten Gang im Jazz, dafür
waren ihm auch komplexe Motivketten oder ElektroJazz als „Blackout
In The Square Root Of Soul“ (15) recht.
Wenn er nicht gerade über Öl-geglättete Hardbop
Riffs improvisierte, schnatterte Herb Robertson gern auf Kornett
und Pocket-Trompete. Wirkliche „Transparency“ (02) erreichte
er zumindest auf dem ersten JMT-Album nicht, doch die „X-Cerpts“/Live
at Willisau (13) bieten beredte Duos mit Saxophonist Tim Berne und
exzellente Soli von Gust Williams Tsilis am Vibraphon. In manchen
Momenten löst sich die Band von einem kantigen Thema und begibt
sich zu einem Freejazz-Gelage. Herb Robertson mag schrille Farben,
kann sie aber nicht immer zu einem Gemälde verbinden.
„Black Pastels“ (16) sind für Cellist Hank Roberts
allerdings die richtigen Farben für seine Musik, die Jazz und
europäische Avantgarde einhegt. Das Titelstück könnte
ein dämonischer Tanz in einem Horrorfilm sein. Gruselig ist
auch „Lucky’s Lament“ mit seinen höllischen
Geräuschen. Dazwischen hellt es sich bei duftigen Brazil-sounds
und lyrischen Impressionen auf. Bill Frisell, Robin Eubanks und
Tim Bearne haben die Paletten gehalten.
Futuristisch sind die „Acute Insights“ (17) von Posaunist
Peter Herborn. Er bewegt sich als Komponist sehr nahe an der Neuen
Musik. Raimund Hüttner hat prägnante Sound- Samplings
erfunden und Kenny Wheeler schnuppert mit seiner Trompete misstrauisch
in diesem kühlen Ambiente. „Free, Forward & Ahead“
ist das Motto, und Peter Herborn bleibt trotz Temposchwenks und
glitzernden Computerdekos auf klarem Kurs.
Zwei Duos fügen sich in gar kein Schema. Denn was Sängerin
Jay Clayton und Drummer Jerry Granelli als „Sound Songs“/Klanglieder
(06) entwickeln, sind sehr intensive Dialoge. Wie auch bei Saxophonistin
Jane Ira Bloom, die mit dem Pianisten Fred Hersch über jeweils
eigene Themen sinniert. Sei es als einfacher „Child’s
song“ oder als elegante Interpretation von Wayne Shorter’s
„Miyako“.
Manche Aufnahmen aus dem JMT-Fundus blieben modische Erscheinungen,
manche skurril, manche deuten auf Trends, die sich später zur
Reife entfalteten. Auf jeden Fall dokumentiert die JMT-Serie bemerkenswerte
Strömungen des zeitgenössischen Jazz.
Hans-Dieter Grünefeld
Diskografie Alle
CDs sind bei Winter & Winter/ edel contraire zu beziehen.
Die Zahlen in ( ) beziehen sich auf die Alben in fortlaufender
Nummerierung der JMT-Serie.
Steve Coleman Group: Motherland Pulse
JMT 919 001-2
Herb Robertson: Transparency
JMT 919 002-2
Jane Ira Bloom & Fred Hersch: As One
JMT 919 003-2
Cassandra Wilson: Point of View
JMT 919 004-2
Steve Coleman & 5 Elements: On The Edge Of Tomorrow
JMT 919 005-2
Jay Clayton/Jerry Granelli: Sound Songs
JMT 919 006-2
Stefan F. Winter: The Little Trumpet
JMT 919 007-2
Craig Harris and Tailgaters Tales: Shelter
JMT 919 008-2
Jean-Paul Bourelly: Jungle Cowboy
JMT 919 009-2
Steve Coleman & Five Elements: World Expansion
JMT 919 010-2
Greg Osby: And Sound Theatre
JMT 919 011-2
Cassandra Wilson: Days Aweigh
JMT 919 012-2
Herb Robertson Quintet: „X-Cerpts“-Live at Willisau
JMT 919 013-2
Bob Stewart: First Line
JMT 919 014-2
Craig Harris and Tailgaters Tales: Blackout In The Square Of
Soul
JMT 919 015-2