[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2002/09 | Seite 16
51. Jahrgang | September
nmz-spezial
Medea in Berlin? Dafür kriegt ihr mein Orchester
Kunst im Auftrag eines Laienchores: „Medea in Korinth“
von Georg Katzer nach dem Libretto von Christa und Gerhard Wolf
Die Konzertsaison 2002/2003 des Berliner Sinfonieorchesters beginnt
mit einem Paukenschlag: Uraufführung der oratorischen Szenen
„Medea in Korinth“, einem Auftragswerk der Berliner
Singakademie, das der Komponist Georg Katzer nach einem Libretto
von Christa und Gerhard Wolf schuf.
N icht allein, dass sich damit besonders prominente Vertreter ihrer
Zunft zu Wort meldeten – auch dass ein Laienchor ein solches
Projekt als Auftragswerk vergeben hat und zur Aufführung bringt,
ist eine bemerkenswerte Tatsache.
Die neue musikzeitung informiert auf den nächsten Seiten über
die Hintergründe und die Entstehung dieses Projekts. Thomas
Otto führte Gespräche mit Christa und Gerhard Wolf und
Georg Katzer, den Autoren des Stücks, beobachtete Achim Zimmermann
bei seinen Proben mit der Berliner Singakademie und traf sich mit
den Auftraggebern.
Probensituation 1
Annäherung. Schrittweise. Achim Zimmermann will dem Chor
ein Gespür für die Wirkung des Stückes vermitteln.
Welche rhythmischen und klanglichen Strukturen sieht der Komponist
vor, um den Konflikt darzustellen, den Medea auszutragen hat? Von
Anfang an macht Zimmermann deutlich, wie außerordentlich wichtig
die Aussprache des Chores ist, gleich, ob der Text gesungen oder,
ganz im Stile des antiken Chores, rhythmisch gesprochen wird. Takt
1.121. Medeas Untergang ist bereits besiegelt. Sie hat das schreckliche
Geheimnis entdeckt, auf dem die Stadt Korinth ruht. Sie ist zur
Gefahr für die Herrschenden und zur unbequemen Mahnerin für
all jene geworden, die die aufkommende Unruhe verdrängen wollen.
Zimmermann deutet die Bewegung des Orchesters an: Sechszehntel-Triolen,
„accellerando poco“, die Männer, sprechend, im
Tutti: „Sie bringt die Stadt in Aufruhr“, dann weiter,
singend: „Sie hat die Pest uns angehext.“ Als ob alle
darauf gewartet hätten, geradezu befreit, reagiert der ganze
Chor, die Stimmen in hoher Lage, als ein Zeichen der Hysterie: „Sie
hat die Pest uns angehext.“ Medeas Schicksal ist bereits besiegelt...
Proben zu Katzers „Medea
in Korinth“: Achim Zimmermann. Foto: Th. Otto
Zu den vielen, die Christa Wolfs Roman „Medea. Stimmen“
gelesen hatten, gehörte auch Nico Sander, Deutschlehrer an
einem Berliner Gymnasium und „nebenberuflich“ Bassist
bei der Berliner Singakademie. Als er mit Achim Zimmermann, dem
Chordirektor, über seine Eindrücke von diesem Buch sprach,
entstand bei den beiden ziemlich rasch die Idee, dass dies ein Stoff
ist, der für ein Stück geeignet wäre, das die Berliner
Singakademie singen könnte. Das Problem war: dieses Stück
gab es noch nicht. Könnte man es nicht in Auftrag geben? Dazu
müsste man zunächst mit Christa Wolf sprechen, dann einen
Komponisten suchen und – Partner finden, die ein solches Unterfangen
unterstützen würden.
Was den Komponisten betraf, waren sich die beiden schnell einig:
Georg Katzer sollte es sein. Achim Zimmermann und Nico Sander sprachen
zunächst mit Frank Schneider, dem Intendanten des Konzerthauses
Berlin, über ihre Idee. Dieser sagte spontan: „Dafür
kriegt ihr mein Orchester!“ Ein Schwerpunkt der diesjährigen
Saison des Konzerthauses Berlin lautet „Mythen und Musik“.
Dazu wurde eine Auswahl aus der großen Zahl von Orchester-
und Kammermusiken getroffen, die auf Anregungen klassischer Mythen
zurückgehen und diese vorgeprägten Stoffe mit ihrer jeweils
eigenen Zeit in Beziehung setzen. Mit acht Konzerten ist das Berliner
Sinfonieorchester in diesen Themenschwerpunkt eingebunden, unter
anderem durch „Antigone“ von Mendelssohn und nun auch
durch die Uraufführung der „Medea“. Frank Schneiders
Zusage bedeutete immerhin: mit dem Berliner Sinfonieorchester würde
der Singakademie bei diesem Projekt eines der Spitzenorchester Berlins
zur Seite stehen. Es wäre nicht das erste Mal – die Reihe
gemeinsamer Konzerte ist lang. Aber in dieser Konstellation würde
es ein Novum und zugleich eine Herausforderung sein, wie es sie
für die Berliner Singakademie bis dato noch nicht gegeben hat.
Die große Frage war jedoch zunächst, wer ein solches
Vorhaben unterstützen würde. Nico Sander wandte sich in
seiner Eigenschaft als Vorstandsvorsitzender der Gesellschaft der
Freunde der Berliner Singakademie mit einem Exposee an die Ernst
von Siemens Stiftung, die sich recht bald bereit erklärte,
mit einem stattlichen Anteil den Grundstock der Finanzierung bereitzustellen,
an der sich auch die Stiftung Kulturfond Berlin beteiligte. Den
Rest leistete die Gesellschaft der Freunde der Berliner Singakademie
mit Geldern, die durch die Aktivitäten des Chores erworben
wurden. Mit Ausnahme der Mittel aus der Stiftung Kulturfond Berlin
kam die Entstehung des Projekts völlig ohne öffentliche
Gelder aus. Einen großen Beitrag leistete natürlich das
Konzerthaus Berlin durch die Zusage, sein Orchester zur Verfügung
zu stellen und einen großen Teil der Aufführungskosten
zu übernehmen. Und schließlich war auch der Berliner
Senat am Zustandekommen des Projekts beteiligt: durch die Mittel
der Chorförderung in Form von Zuschüssen, die die Berliner
Singakademie für ihre Konzerte erhält.
„Es ist vor allem kulturpolitisch wichtig, dass dies ein
Laienchor macht!“, findet Nico Sander. „Zum einen der
künstlerischen Anforderung wegen, zum anderen, weil es zeigt,
dass solche Partnerschaften durchaus möglich sind! Das ist
ein Zeichen für die Stadt Berlin. Davon kann jeder lernen:
In Zeiten schwieriger Kulturpolitik Initiativen zu ergreifen, die
den Senat nicht automatisch viel Geld kosten müssen.“
Der Auftrag wurde Anfang 2000 offiziell erteilt, Ende 2001 sollte
die Abgabe sein. Bereits im Juni 2000 lag der Klavierauszug vor!
Katzer setzte seine Signatur am Heiligabend 2001 unter die fertige
Partitur.
Probensituation 2
Die Sünde der Stadt Korinth hat einen Namen: Iphinoe. Des
Königs erstgeborene Tochter, ermordet, um seinen Machterhalt
zu sichern. Ein verklärter Mord, der dem Volk als Opfer verkauft
wurde, als Opfer zum Wohle der Stadt, als Opfer mit Altar und Priesterin.
Medeas Entdeckung lässt Zweifel aufkommen. Im Volk wird diskutiert.
„Ihr alle habt es gewusst. Ihr alle habt uns belogen“,
singen die Frauen. „Gebt Ruhe“, entgegnen sprechend
die Männer, und: „hört auf mit den alten Geschichten“.
Als die Frauen nicht nachlassen – „Unschuldig war sie,
gebt es zu“ – höhnen die Männer: „Ihr
wisst, wie gern wir euren Reizen uns unterwerfen, ha ha ha.“
Wieder und wieder arbeitet Zimmermann dieses Wechselspiel zwischen
gesungenem und gesprochenem Wort, das von den Männern brutal
beendet wird: „Nur lasst uns, was wir besser können:
diese Stadt regieren“.
Welche Chance hat da Medea?
Über ihre Arbeit am Stück geben die beiden Autoren ausführliche
Auskünfte (siehe Interviews). Aber wie erarbeitete sich Achim
Zimmermann dieses so komplexe Thema?
„Von außen nach innen, vom großen Überblick
bis in die kleinste Zelle“, sagt er. „Erst habe ich
das Werk als Ganzes strukturiert: welche Stücke gehören
zusammen? Im Prinzip kommt das einer Formanalyse gleich, was natürlich
bei Beethoven leichter ist, weil es dort regelmäßige,
ganz normal klassische Abläufe gibt. Die aber hat dieses Stück
nicht. Man kann das auch nicht anhand des Klavierauszuges machen,
weil erst die Instrumentation erkennen lässt, wie der Charakter
dargestellt ist. Und nach diesem Prozess geht es dann natürlich
wieder von innen nach außen. Es ist genau so wichtig, nachdem
man dann die Einzelheiten kennt, wieder den Blick für das Ganze
zu bekommen.“ Es gebe, so Zimmermann, bei „Medea“
ganz verschiedene Abläufe: riesengroße Chorszenen, die
„chaotisch“ instrumentiert seien, bei denen man das
Gefühl habe, es geht total durcheinander. Die Harmonie, die
dem Stück „fehlt“, ist natürlich durch das
Stück selbst begründet. So scheint es nur folgerichtig,
dass Passagen fehlen, bei denen das Schwergewicht länger auf
einer Szene belassen wird, einem Ruhepunkt gleich, ohne dass die
Handlung gleich weiter vorangetrieben wird. In den klassischen Oratorien
etwa übernimmt die Arie eine solche Funktion. Bei Katzer werden
emotionale Aspekte zum Beispiel durch Klänge artikuliert.
Probensituation 3
Verleumdung. So macht man unschädlich, wer Unliebsames weiß
und nicht nachlässt, es zu verkünden. Takt 1.572. Medea
fassungslos: „Nun schreien sie es aus, ich selber hätte
meine Kinder umgebracht. Greuel über Greuel, die Liebe ist
zerschlagen. Finster ist die Welt bis an ihr Ende auch der Schmerz
erstirbt.“ Das Volk lässt keinen Zweifel daran. Zimmermann
ruft: „Fortissimo!“ Der Chor schreit es geradezu heraus:
„Kindsmörderin“. Zimmermann bricht ab. „Fortissimo
bitte und schärfer punktieren: Kinds-mör-de-rin!“
Dann, beinahe schaudernd über die eigene Gläubigkeit,
fährt der Chor im Piano fort: „Durch die Jahrhunderte
wird die Menschheit sich vor dir entsetzen...“ Und immer wieder:
„Kindsmörderin“.
Was bleibt Medea, der Verleumdeten, als alle zu verfluchen?
Zum Repertoire der Berliner Singakademie gehört nicht nur
Musik von Bach, Händel oder Mendelssohn. Jährlich steht
zumindest ein Konzert auf dem Plan, bei dem auch Musik des 20. Jahrhunderts
erklingt. In diesem Jahr waren es sogar zwei: Alfred Schnittkes
„Requiem“ und das „Pax et bonum“ des Berliner
Komponisten Heinrich Poos. Von daher sind dem Publikum der Singakademie
Erfahrungen im Hören Neuer Musik nicht fremd und es ist bereits
auf ein gewisses „Risiko“ eingestellt. Gleichwohl braucht
es zum bewussten Hören der „Medea“ eine bestimmte
Sensibilisierung, um die Dinge zu erkennen, so, wie sie gemeint
sind. Die Befürchtung, dass das Publikum überfordert wird,
besteht nicht? „Doch!“, antwortet Zimmermann. „Jedes
Publikum ist mit solcher Musik überfordert. Denken Sie an die
Biennale-Konzerte – das sind meist Insiderveranstaltungen.
Dorthin kommen Lehrer und Schüler von Komponisten, Bekannte
und Leute, die sich mit der Materie auseinander setzen. In ‚Medea’
gibt es zum Beispiel viele Passagen, die sind kammermusikalisch
aufgebaut, wo das große Orchester gar nichts zu tun hat. Etwa,
wenn Medea aus ihrem Leben erzählt, da spielt nur eine Harfe,
quasi rezitativisch. Oder wenn es um den Tod von Iphinoe geht –
ganz tiefe tremolando gespielte Bassflöten – das wird
sich dem Zuhörer beim ersten Hören gar nicht erschließen.
Das ist auch ganz normal. Selbst ein Vortrag vor der Aufführung
würde das nicht einfacher machen.“
Viele, so vermutet Zimmermann, werden aus reiner Neugier kommen,
nicht zuletzt, weil es sich um ein Stück von Christa Wolf handelt.
Die „Medea“-Proben stellten die Berliner Singakademie
vor neue, bis dato nie gekannte Schwierigkeiten: die Komplexität
des Stückes, sein komplizierter Aufbau, seine (dis-)harmonische
Struktur, die verschiedensten Ausdrucksformen, die dem Chor abverlangt
werden. Neu für Zimmermann war auch die Vielzahl der Schlagwerke,
die vom Komponisten vorgeschrieben werden. Vieles, was davon in
der Partitur steht, kennt man kaum dem Namen nach: „kleines
Cecero mit Bogen spielen“, „Loktrum mit mehreren Feldern,
auch mit Flummy“, „Bambusspendel“ etcetera. Umso
wichtiger ist ihm deshalb, dass der Chor rhythmisch sattelfest ist,
damit Zimmermann sich, wenn es denn drauf ankommt, auch um den Einsatz
für das „Flexaton“ oder die „Glasmurmeln
im kleinen Säckchen“ kümmern kann.
Die Probenphasen mit Chor stehen vor dem Abschluss, die gemeinsamen
mit dem Orchester stehen bevor. Es ist eine immense Arbeit, die
bis jetzt geleistet wurde. Und wie bei so vielen Stücken stellt
sich die Frage auch hier wieder aufs Neue: So ein Stück müsste
mehrmals aufgeführt werden. „Wir würden gern mit
dem Orchester und dem Chor in München und Leipzig auftreten,
oder in Hamburg“, meint Nico Sander. „Wir hoffen sehr,
dass Leute aus anderen Städten kommen und sich das anhören
und dann feststellen: das müsste eigentlich auch in unserer
Stadt laufen. Das wäre erfreulich.“ Es wäre auch
wünschenswert.
Probensituation 4
Der Schluss. Medea fragt: „Wohin mit mir? Ist eine Zeit
zu denken, in die ich passen würde.“ Es ist der Chor,
der ihre Verlassenheit verdeutlicht. Zimmermann nimmt die vier Takte
und ihre Wiederholung im Piano: „Es bleibt der Himmel stumm
und auch die Erde schweigt. Die Worte „stumm“ und „schweigt“,
jeweils am Ende einer Phrase, will er intensiv ausgehalten wissen.
Während er mit der rechten Hand die Viertel schlägt, führt
er die linke geöffnet nach vorn, geradezu beschwörend,
über die Länge des Taktes. Denn nun, nach drei weiteren
Takten sparsamen Orchesters, wird Medeas Aussichtslosigkeit mit
aller Härte deutlich. Alle Protagonisten, sowohl der Chor,
als auch Glauke, Jason, Akamas, Leukon – selbst Medea –
konstatieren das Ende: „Wohin sie ihren Blick auch wenden
mag: Niemand da, den sie fragen könnte“. Zimmermann schlägt
weiter, mit kleinsten Gesten das Pianissimo des Orchesters andeutend,
welches schließlich ganz erstirbt, um jenen letzten Satz hörbar
zu machen, den der Chor flüsternd deklamiert: „Das ist
die Antwort“. Das Ende.