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nmz-archiv
nmz 2002/09 | Seite 36
51. Jahrgang | September
ver.die
Fachgruppe Musik
Das Unpolitische an sich ist zum Virus geworden
Von der Befreiungskultur zur Ideologie der Sieger, Teil I ·
Von Susann Witt-Stahl
Kanzler Schröder intoniert mit den Scorpions „Wind of
Change” und die „Spaßpartei” klinkt sich
hoch auf dem gelben Wagen in die „Love Parade” ein;
heutzutage ist alles Pop, sogar die Börse und der Standort
Deutschland, wie unlängst VIVA-Chef Dieter Gorny freudestrahlend
feststellte. Die Protagonisten der „Neuen Deutschen Härte”,
Joachim Witt und Rammstein, überfluten die Charts mit brachialer
Riefenstahl-Ästhetik. Nicht wenige Gothic- und Apocalyptic-Folk-Bands
beklagen den Untergang des Abendlandes und schwelgen in misanthropischen
Fantasien, während „unpolitische” Deutsch-Skins
– „langhaarige Sau, du siehst aus wie deine Frau”
(Oberste Heeresleitung) – keinen Hehl aus ihrem Hass gegen
„Alternative” und „Schwule” machen.
Pop hat sich zur „Legitimationskultur der Neuen Mitte”
entwickelt bis hin zur Ideologie des „survival of the fittest“,
diagnostiziert der Autor Martin Büsser. Die Kulturform, die
einst Soundtrack für den jugendlichen Protest gegen die Kälte
und Ungerechtigkeiten des fortgeschrittenen Kapitalismus war, ist
nach rechts abgebogen. In seinem Buch „Wie klingt die Neue
Mitte“ beschreibt Büsser eindringlich das Eingeklemmtsein
der Popmusik zwischen den Profitinteressen der Weltkonzerne und
dem wiedererwachten Nationalismus: Auf der einen Seite wird Pop
als „Esperanto des global village“ und „normative
Kontroll-Ästhetik“ im „Erlebnispark Arbeitswelt”
eingesetzt, auf der anderen Seite wird erzreaktionäre, zuweilen
völkische Gesinnung, in dunkle Mystik oder Working-class- und
Bierproleten-Kult gehüllt. Vor allem „das Unpolitische
an sich ist zum Virus geworden“, kritisiert Pop-Experte Büsser.
Obwohl viele Musiker “Stereotypen von Macht und Männlichkeit“
perpetuieren, schwören sie pausenlos, unpolitisch zu sein.
Die Ordnung scheint wieder hergestellt: „Endlich sind die
Terroristen weg“, die Machthaber „verkaufen fröhlich
ihre Panzer“, bleiben ungestört beim Kinderabschieben
und „fahren sicher Mercedes, ohne dass die Dinger immer explodieren“,
toasted Jan Delay in seinem Reggae „Söhne Stammheims“,
und er konstatiert, wie die „Jürgen und Zlatko“
folgen, „doch nicht mehr Baader und Ensslin“. Auf der
Pirsch nach den Vorboten der geistig-moralischen Wende gräbt
Buchautor Martin Büsser sich durch drei Jahrzehnte Mentalitätsgeschichte
der Popkultur. Er stößt dabei auf den schleichenden Verlust
der Pubertät – jenen intensiven Zustand der Verwirrung,
tiefen Zerrissenheit und Verwundbarkeit, in dem „der Geist
sich von den unmittelbaren Zwecken distanziert“ (Theodor W.
Adorno). Büsser schließt sich der Auffassung des Soziologen
an, dass die Pubertät die einzige Phase der Befreiung ist.
Punk habe die Idee geboren, die Pubertät zu verlängern,
und den Kampf gegen die Gesellschaft zum höchsten Vergnügen
erhoben. So stellt Büsser nicht nur fest, dass Adorno „im
Innersten seines Herzens ein Punk war“ – denn auch er
betrachtete, Spannungsverhältnisse zum Bestehenden zu schaffen,
als einzige Legitimation von Kunst –, sondern Büsser
schlägt vor, auf der Suche nach Auswegen, ästhetisch dort
anzuknüpfen, wo Pop Widersprüche zuließ, offen zweifelte,
sich dilettantisch und verwundbar zeigte. Und das ereignete sich,
als Provokateure wie Delay noch keine Ausnahme waren, Scheinfrieden
und die falsche Liebe der Hippies entlarvt, Politiker noch nicht
als Popstars auftraten, Thatcher und Kohl als „natürliche
Feinde“ aller aufrichtig Pubertierenden galten und alle Tage,
so wollte es Punk, Silvester sein sollte.
Seine ersten Artikel veröffentlichte der Mainzer Autor Ende
der Achtziger in dem Punk/Hardcore-Magazin ZAP. Heute schreibt Martin
Büsser für Magazine wie „Konkret“ und „Jazzthetik“.
Spätestens seit seiner ersten Buchveröffentlichung „If
the Kids Are United“ gehören seine Essays zur Pflichtlektüre
der kritischen Pop-Konsumenten. Vor allem Musikfreunde, die unglücklich
darüber sind, dass Punk sich auf Deutsche Bank reimt, saugen
seine Werke auf wie Nektar und ordnen sie im Bücherregal ganz
in der Nähe von Walter Benjamins Kunstwerkaufsatz ein. Seit
1995 ist Büsser Mitherausgeber der Buchreihe TESTCARD, die
zweimal jährlich erscheint und sich jeweils Schwerpunktthemen
widmet, die Popkulturgeschichte berühren: Literatur, Krieg,
Gender et cetera.
Es ist der erstaunliche Materialreichtum, die pointen- und bilderreiche
Sprache, die seine Reflexionen über die „Musik der Unbefugten“
(Büsser rekurriert auf die antiakademische Pop-Definition des
Aktionskünstlers Günter Brus) für nachdenkliche Popfans
so attraktiv machen. Der Literaturwissenschaftler knüpft methodisch
an Theodor W. Adorno an, wenn es darum geht, die vielfältigen
Erscheinungsformen sowie die materiale Beschaffenheit von Pop als
Chiffren gesellschaftlicher Verhältnisse zu deuten und die
Lügen der Popkultur aufzudecken. Und wenn der 34-Jährige
in seinen Büchern den Verrat anprangert, den Pop tausendfach
begangen hat, dann versäumt er nie, seinen Lesern auch von
dessen eruptiver Kraft und der herrschaftszersetzenden Virulenz
zu erzählen. –Wenn diese Musik als Ästhetik des
Widerstands verstanden und gelebt wird.
Martin Büsser über den Wertewandel in der Popkultur
nmz: Konservative, reaktionäre bis faschistoide Tendenzen
erobern immer mehr Terrain in der Popmusik und bekommen großen
Applaus. Ist das ein speziell deutsches oder ein internationales
Phänomen?
Büsser: Die geballte Ladung an reaktionären und offen
rechten Tendenzen in Pop- und Rockmusik fällt in Deutschland
besonders auf. Sie reicht ja von all den in deutscher Sprache singenden
Neonazi-Bands aus dem Skin-Spektrum bis zu den „rehabilitierten“
Böhsen Onkelz. Im Mainstream reicht sie von Bands, die mit
rechter Ästhetik kokettieren (Joachim Witt, Rammstein) bis
zu Gruppen, die zwar nicht rechts sind, aber linientreu mit der
gegenwärtigen Regierung (etwa BAP, die sich seinerzeit für
die NATO-Einsätze in Jugoslawien ausgesprochen hatten). Das
darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es
sich um ein internationales Phänomen handelt. Gerade die rechten
Teile der Gothic- und Black-Metal-Szene finden sich überall,
unter anderem in Italien, England, den USA, Norwegen und sogar –
so paradox das klingen mag – in Israel; der berüchtigtste
Vertreter des offen rechten Apocalyptic Folk (Douglas Pearce von
Death in June) ist Brite. Gegen eine ursprünglich international
ausgerichtete und vom angloamerikanischen Raum bestimmte Popkultur
haben sich innerhalb der letzten zehn bis fünfzehn Jahre zahlreiche
lokale Subszenen herausgebildet, die auf Werte wie Regionalismus,
Nationalismus und kulturelle Identität setzen. Sie sind in
der Regel antiamerikanisch ausgerichtet und verstehen sich als Protest
gegen Kommerz und Mainstream – allerdings nicht aus einer
alten, linken Haltung heraus. Ihr Antikapitalismus zielt eher darauf
ab, regionale Produkte zu fördern.