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nmz-archiv
nmz 2002/10 | Seite 8
51. Jahrgang | Oktober
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Neues Hören
Zur Eröffnung der Dritten Pinakothek in München bemerkt
Eduard Beaucamp in der FAZ: „Das Schlusslicht München
eröffnet seinen Tempel der Moderne in einem Moment, wo das
zwanzigste Jahrhundert und sein Fortschrittsprojekt abgeschlossen
sind. Eine Fortsetzung wird kaum stattfinden, da sich die Avantgarde-,
Autonomie- und Genieästhetik überlebt hat und Formgebung
und Gestaltfindung heute von Computern entwickelt werden... Damit
kehrt auch das Moderne Museum zur angestammten Bestimmung, der postumen
Kunstveranstaltung, zurück.“ Die Formulierung mag zugespitzt
erscheinen, doch an der Feststellung, dass die Avantgardebewegungen
historisch geworden sind, ist kaum zu rütteln.
Der Gedanke lässt sich bei allem Unterschied zwischen Bildender
Kunst und Musik auch auf ein Festival wie die Donaueschinger Musiktage
übertragen. Geboren 1921 in der Aufbruchsphase nach dem Ersten
Weltkrieg und mit neuem Schub ausgestattet nach 1945, bildeten sie
im 20. Jahrhundert ein Zentrum der neuen Musik. Aber mit dem Altern
der Avantgarde sind auch sie im Lauf der Zeit zu einem Museum geworden,
und zwar im gleichen Maß, wie sie an deren obsoletem Kanon
festgehalten haben: an den diffusen Begriffen des Neuen und des
technischen Fortschritts sowie am selbstreferenziellen Insiderdenken
der Teilnehmer.
Das steht in seltsamem Widerspruch zu ihrem Selbstverständnis
als „Arbeitsfestival“, das stets die neuesten Trends
verhandeln möchte; auch im Widerspruch zu den Publikumsmassen,
die heute in die Konzerte drängen und unter denen der Spezialistentross
aus Medienleuten, Verlegern, Veranstaltern und Komponisten eine
Minderheit darstellt. Es spricht für Armin Köhler, den
Programmverantwortlichen, dass er diese Widersprüche erkannt
hat und nach einem Ausweg aus der Sackgasse sucht. In einem Beitrag
für die letzte Nummer der Zeitschrift „Positionen“
skizziert er, wie er sich das vorstellt: Er will neue Präsentationsformen
entwickeln, die den veränderten Kommunikationsmodi entsprechen
und die Rezeptionsbedingungen stärker mitreflektieren, denn
es seien „weniger die Werke selbst, die uns zum Diskurs herausfordern,
sondern die Fragestellungen, die wir an sie richten“.
Und ebenso wichtig wie das einzelne Werk, schreibt er, sei der soziale,
politische, kulturelle und wirtschaftliche Kontext, in dem es stehe.
Solche Thesen sind auch im Donaueschinger Programmheft 2001 in
einem Gespräch mit dem Kommunikationstheoretiker Boris Groys
zu lesen. Hinter ihrem sozio-technizistischen Fachjargon schimmert
das Credo der angewandten beziehungsweise funktionalen Musik der
zwanziger bis frühen siebziger Jahre durch, als man wenig Vertrauen
in den Erkenntniswert des Hörens hatte, die Musik aus dem Konzertsaal
heraus holen und in gesellschaftlich neue Zusammenhänge stellen
wollte. Theoretisch vollzieht sich damit eine Schwerpunktverlagerung
von der Werkästhetik zur Kommunikationstheorie. Legitimiert
wird diese Funktionalisierung indirekt mit dem Recht des zahlenden
Publikums, einbezogen zu werden in einen Vermittlungszusammenhang,
der ihm für sein Geld einen gewissen Erlebniswert verspricht.
Eine bessere Integration der neuen Musik in gesellschaftliche Prozesse
ist gewiss zu begrüßen. Doch bevor Vermittlung stattfindet,
muss es erst etwas geben, das vermittelt werden kann, und das heißt:
Kompositionen von hohem Niveau, was handwerkliches Können und
ästhetische Reflexion, was Form-Inhalt-Relation, emotionale
Glaubwürdigkeit und anderes mehr angeht. Am Mangel an solchen
Qualitäten scheint es zu liegen, dass in den letzten Jahren
die Unlust und sogar der Groll bei vielen Besuchern wuchs. Auch
wohlmeinende Kritiker äußerten sich zunehmend enttäuscht
und fragten sich, ob sie eigentlich über Donaueschingen nur
aus taktischen Gründen – um in Zeiten des knappen Geldes
den Gegnern kein Argument zu liefern – positiv schreiben sollten.
Soll „Arbeitsfestival“ heißen, Unfertiges vorzustellen?
Ist Experiment ein Synonym für Basteleien, in denen der Begriff
des Problematischen sich nicht als ästhetische Qualität,
sondern als handwerkliches Unvermögen artikuliert? Was bringt
es fürs Hören, einen „neuen situativen Wahrnehmungsmodus“
zu erzeugen, indem man die Instrumentalisten mit dem Rücken
zum Publikum spielen lässt? Und anders herum: Genügt die
virtuose Handhabung der technischen Mittel, um ein Werk als gelungen
zu bezeichnen? Fragen, die sich in Donaueschingen stellen.
Sicher gab es in den letzten Jahren manches Interessante zu hören,
doch scheint mir, dass vor dem Kontext zunächst einmal der
Text selbst wieder mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken
sollte. Und das nicht nur im Hinblick auf handwerkliche Aspekte,
sondern auch auf das, was man als Stringenz der Aussage bezeichnen
könnte. Um den „Rezipienten“, dieses theoretische
Konstrukt, zum Leben zu erwecken und in einen Dialog mit dem Werk
einzubeziehen, genügt die mit Machergeste entworfene, abstrakt-formalistische
Klangraumdisposition nicht; sie erzeugt in ihm bestenfalls leere
Empfindungen. Neue gedankliche und emotionale Perspektiven eröffnen
sich dem Hörer nur kraft musikalischer Zeichen, die einer genuinen
künstlerischen Imagination entsprungen sind; nur so fühlt
er sich ernst genommen. Und das ist keine Frage der kommunikationstheoretischen
Planung, sondern auch im 21. Jahrhundert immer noch ganz altmodisch
eine Angelegenheit des komponierenden Individuums und seines subjektiven
Vermögens.
Donaueschingen ist und bleibt in erster Linie ein Konzertsaalfestival.
In gewissem Sinn eben ein der Gegenwart geöffnetes Klangmuseum.
Daran ändern all die Versuche mit akustischer Umweltmöblierung,
die bei kleinen Festivals durchaus ihren Sinn haben, nichts. Zu
den Pfunden, mit denen Donaueschingen wuchern kann und es zum Glück
auch tut, gehören das hauseigene SWR-Orchester – ein
seltener Fall eines für die neue Musik hoch qualifizierten
Klangkörpers – und die eingeladenen Spitzenensembles.
Diese Potenziale gilt es zu nutzen, um kontinuierlich auf ein neues
Hören hin zu arbeiten. Denn neue Musik heißt immer auch
qualifiziertes neues Hören. Es ist von easy listening und akustischem
Selbsterfahrungswesen gleich weit entfernt; seine Resonanzräume
sind nicht Treppenhäuser oder Flanierpassagen, sondern das
Innere des Körpers und die Imagination. Eine Verbindung mit
Texten, Pixeln und Situationen schließt das nicht aus.
Donaueschingen, als offenes Klangmuseum verstanden, wäre
ein optimaler Ort für neue Hörerfahrungen: ein Ereignisraum,
wo es nur Werke von starken künstlerischen Persönlichkeiten,
jung oder alt, zu hören gäbe, wo auch historische Perspektiven
aufgerissen würden und das Neue sich an Meisterstücken
der Avantgarde von gestern messen lassen müsste. Auch das wäre
ja ein Kontext, wenn auch nur ein musikalischer. Aber darum geht
es ja eigentlich, oder?