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nmz-archiv
nmz 2002/10 | Seite 35
51. Jahrgang | Oktober
Oper & Konzert
„One-desk-philosophy“ auf getrennten Wegen
Auf der Suche nach neuen Profilen: Berliner Festwochen und Berliner
Philharmoniker
Soviel Neuanfang war selten: seit dieser Saison besitzt das Berliner
Philharmonische Orchester einen neuen künstlerischen Leiter,
einen neuen Intendanten, eine neue Rechtsform und einen neuen Namen.
Ganz neu präsentieren sich auch die Berliner Festwochen, deren
langjähriger Leiter Ulrich Eckhardt einem Team um Joachim Sartorius
Platz machte. Es hätte also Anlass gegeben, diesen vielfachen
Neubeginn festlich zu begehen, um gemeinsam Zeichen für die
Zukunft zu setzen. Dies wäre um so mehr angebracht, als die
(West-)Berliner Festwochen seit 1951 die Musik als ihr Zentrum begreifen
und bislang aufs engste mit dem Berliner Philharmonischen Orchester
zusammenarbeiteten. Nicht selten markierte das Eröffnungskonzert
zugleich den Beginn der philharmonischen Saison, wobei das Orchester
wesentliche Beiträge zu den Themenschwerpunkten der Festwochen
leistete. Als besonders aufgeschlossen gegenüber solchen programmatischen
Impulsen hatte sich zuletzt der mit Eckhardt befreundete Claudio
Abbado gezeigt.
In Berlin angekommen, aber
nicht bei den Festwochen: Sir Simon Rattle.
Foto: Sheila Rock/EMI
In diesem Jahr ist alles anders. Die thematischen Schwerpunkte
entfielen sowohl bei den Festwochen wie bei den Philharmonikern.
Nicht nur gingen die früheren Partner getrennt an den Start
– zum ersten Mal seit fünfzig Jahren fehlen die Philharmoniker
sogar gänzlich im Programm der Festwochen. Wie der für
die Musikprogramme dort jetzt verantwortliche André Hebbelinck
erläutert, hatte es im Vorfeld positive Gespräche mit
Simon Rattle und dem Orchester gegeben. Dann allerdings hätten
die Intendanten Sartorius und Ohnesorg abgewunken und eine jeweils
eigenständige Profilierung vorgezogen. Dies ist einigermaßen
grotesk, da Festwochen wie Philharmoniker in diesem September gleichzeitig
die Komponisten Thomas Adés, Mark-Antony Turnage und Olivier
Messiaen vorstellen. Die Aufführungen folgen innerhalb weniger
Tage in der gleichen Stadt, beide aus Bundesmitteln finanziert,
aber in verschiedenen Programmen und ohne Querverbindungen.
Nach der langen und erfolgreichen Amtszeit Ulrich Eckhardts suchen
die Festwochen nach einem neuen Profil. Wo es früher übergreifende
Themenschwerpunkte gab, widmet man sich nun Einzelaspekten oder
– ganz ähnlich wie Rattle – „einem Gefühl
von Vitalität und Vielfalt“. Dazu Hebbelinck: „Man
kann sich fragen, ob wir nicht zu eklektisch sind. Aber wir leben
in einer eklektischen Zeit, unsere Musikkultur ist eklektisch.“
Wo früher die Philharmonie das Zentrum der Veranstaltungen
bildete, werden diese nun über die ganze Stadt verteilt, um
verschiedene Publikumsschichten zu erreichen. Erstreckten sich die
Festwochen bislang auf einen Zeitraum von vier bis fünf Wochen,
so wuchern sie nun über mehrere Monate. Wo früher der
historische und geographische Standpunkt Berlins reflektiert wurde,
siedelt man die Stadt nun in der angelsächsischen Welt an;
bei der Pressekonferenz wimmelte es von Begriffen wie „Work
in Progress“, „Count Down“, „Finish“,
„Launch“, „DJ“ und „Home Stories“.
Anders als früher stellte nicht einmal mehr die Festwochen-Eröffnung
– ein Gastspiel der Batsheva Dance Company in der zum Haus
der Festspiele transformierten ehemaligen Freien Volksbühne
– ein zentrales Ereignis dar. Wenige Tage später folgte
als Berliner Erstaufführung Helmut Lachenmanns Oper „Das
Mädchen mit den Zündhölzern“ in der von den
Salzburger Festspielen angereisten Produktion. Die konzertante Aufführung
in der schwach besuchten Philharmonie, mit dem SWR-Orchester unter
Sylvain Cambreling musikalisch grandios dargeboten, lebte vom Raumklang
und rückte so das Werk stark in die Nähe von Luigi Nonos
„Prometeo“. Von Wort und Szene befreit, wurde die Oper
nun ebenfalls zu einer „Tragödie des Hörens“,
deren politische Brisanz hinter surrenden, rauschenden und pfeifenden
Geräuschen und Klängen verschwand.
Bislang hörte man in den Berliner Konzerten das Berliner Philharmonische
Orchester, dagegen auf CDs deren personell identische Medientochter,
die Berliner Philharmoniker. Unter Abbado hatten werkbezogene Ideen
zur Programm-Identität beigetragen, während sich die Medien
– wie zu Karajans Zeiten – gern dem Personenkult hingaben.
Nach der Umwandlung des Orchesters in die Stiftung „Berliner
Philharmoniker“ zog die Werbestrategie der Medientochter nun
auch in die philharmonischen Konzerte ein. In der ganzen Stadt findet
man derzeit Plakate mit dem Konterfei des grauhaarigen Briten und
der Aufschrift „Welcome, Sir Simon“. Rund um die Philharmonie
flattern farbige Fahnen mit der Aufschrift „A vision for music“,
als sei ein neues Einkaufszentrum eröffnet worden.
Diesen Eindruck bestätigten beim Eröffnungskonzert zusätzliche
Scheinwerfer im Innern, die deutliche Präsenz einer Plattenfirma,
die allen eintreffenden Journalisten leuchtendrote Tüten überreichte,
sowie die eiligen Umbauten an der Philharmonie. Während das
Berliner Abgeordnetenhaus Hans Scharouns Visionen für das Kulturforum
nun endlich realisieren möchte, werden im Philharmonie-Innern
seine Absichten durchkreuzt; wo der Architekt den Konsum an den
Rand des Foyers gelegt hatte, wurde nun eine große Bar ins
Zentrum gestellt. Dies entspricht offenbar der „one-desk-philosophy“
des Intendanten Franz Xaver Ohnesorg, dessen strenges Regiment inzwischen
nicht nur den Verband der Deutschen Konzertdirektionen irritiert.
Das Eröffnungskonzert stellte er unter das Patronat der Deutschen
Bank, der er auch im Programmheft reichlich Gelegenheit gab, sich
als „global player“ zu präsentieren.
Wo früher das Eröffnungskonzert auf thematische Zusammenhänge
einstimmte, fand nun ein Medienereignis statt. Wie die Festwochen
lehnen sich auch die Philharmoniker, die sich ihre Stars aus London
und Köln holten, an angelsächsische Vorbilder an. Gemeinsam
mit Harald Schmidt, Alfred Biolek und Günther Jauch, neben
britischen Journalisten und vielen Fernsehkameras konnte man an
diesem Abend das Entstehen der neuesten Rattle-CD erleben, die schon
Ende September ausgeliefert wird. Man hörte Mahlers fünfte
Symphonie und vernahm sie bei aller orchestralen Brillanz doch nicht.
Allenthalben wurden Details derart übertrieben, dass sie –
ähnlich wie zuvor bei der geschmäcklerisch-rätselhaften
„Asyla“-Satzfolge von Thomas Adés – den
Blick aufs Werkganze verstellten und dessen tragische Dimension
nicht einmal ahnen ließen. So ließ Rattle etwa im zweiten
Satz die Celli die Überleitung zur Reprise durchweg im zartesten
Pianissimo verhauchen, obwohl Mahler hier ein genau abgestuftes
Decrescendo vorschreibt. Übertreibungen führten zur Verfälschung,
wenn etwa im Scherzo das Solohorn ganz vorn aufgestellt wurde oder
der Ländler sich zum schmissigen Walzer verwandelte. Gegenüber
den sensiblen und wegweisenden Mahler-Interpretationen Abbados bedeutete
dies einen bedauerlichen Rückschritt. Eingestimmt durch die
im Programmheft wiederkehrende Formel „Welcome Sir Simon –
welcome to the future“ und sein tiefschürfendes Bekenntnis
„Ich liebe Musik, ich liebe, was ich tue“ jubelte das
Publikum dennoch. Wer erinnerte sich noch daran, dass Sir Simon
während der Vertragsverhandlungen erklärt hatte, man müsse
sich zwischen Kunst und Kommerz entscheiden?
Zeitsprünge bei Festwochen
Die Festwochen geben sich seriöser und mutiger. Ihre bisherige
Zusammenarbeit mit dem Philharmonischen Orchester ersetzten sie
durch die mit dem Deutschen Symphonie-Orchester, dessen Chef Kent
Nagano ebenfalls im Zentrum einer Werbekampagne steht (seine Biographie
erschien jetzt zeitgleich mit der Simon Rattles). In der Programmdramaturgie
Dieter Rexroths hatte das DSO schon in den vergangenen Jahren „Zeitsprünge“
mit erhellenden Gegenüberstellungen von Musik aus entfernten
Epochen erprobt. Ähnlich stehen nun bei den Festwochen unter
dem Titel „Zeitmaschine“ Johann Sebastian Bach, Orlandus
Lassus und György Kurtag oder Brahms und Ligeti nebeneinander.
Im ersten von drei Festwochen-Programmen stellte Nagano am 11. September
Beethovens Neunter Symphonie Ligetis „Lux Aeterna“ und
die minimalistische Symphonie Nr. 4 („Gebet“) von Galina
Ustvolskaja voraus. So unterkühlt, distanziert und fremd hat
man Beethovens Symphonie selten gehört. Vielleicht war dies
Naganos Beitrag zu den New Yorker Ereignissen.
Anlässlich der unglücklichen Äußerungen Karlheinz
Stockhausens zum Thema richten die Festwochen in sechs Konzerten
die ungeteilte Aufmerksamkeit wieder auf den Komponisten Stockhausen.
In den Ausschnitten aus „LICHT“ fehlt deshalb der „FREITAG“,
dessen Glutfinale die aktuellen Assoziationen ausgelöst hatte.
Ebenfalls Bezüge auf die Metropole am Hudson-River gab es bei
einem fünfteiligen Porträt des Komponisten Stefan Wolpe
zu dessen 100. Geburtstag. In Zusammenarbeit mit der Wolpe Society
und dem Konzerthaus Berlin beleuchteten einschlägig erfahrene
Interpreten dessen Lebensstationen Berlin, Palästina und New
York. Leider war für den beweglichen Witz und die komplexe
Kontrapunktik seiner Kammeropern „Schöne Geschichten“
und „Zeus und Elida“ die hallige Akustik des Großen
Konzerthaus-Saales denkbar ungeeignet, so daß die von Werner
Herbers geleitete Ebony Band trotz Video-Einspielungen auf verlorenem
Posten stand. Die bereits in den USA entstandene „Yigdal“-Kantate
ersetzte der RIAS-Kammerchor wegen einer Erkrankung durch kürzere,
teilweise schlichte Chorstücke, die Wolpes Wandlungsfähigkeit
(besonders gelungen eine auf Guernica reagierende „Chinesische
Grabschrift“) belegten. Zusammen mit dem Pianisten Michael
Nündel und dem Schauspieler Götz Schulte hatte Stefanie
Wüst ein überaus vielfältiges Lied-Programm aus den
Jahren in Berlin und Palästina erarbeitet, die die spätere
Isolation des Künstlers bedauern ließen.
Wie große Teile von Wolpes Musik erinnerte auch die gleichbleibend
kleine Zuhörerschar an Zeiten, als Neue Musik noch eine Spezialisten-Angelegenheit
war. Bisher ging das neue Festwochen-Konzept, anstelle des früher
repräsentativen Publikums diverse Musikhörer-Szenen anzusprechen,
noch nicht auf. Sogar bei Gerald Barrys Oper „The Triumph
of Beauty and Deceit“, einem aktuellen Gegenstück zu
Händels Oratorium „Il Trionfo del Tempo e del Disinganno“,
war das Haus der Berliner Festspiele nur zur Hälfte gefüllt.
Dabei zielten die Sperma-Orgien und Geschlechtsverwandlungen, mit
denen die grell infantile Inszenierung Nigel Lowerys das Stück
vergewaltigte, direkt auf ein schwules Publikum. Thomas Adés,
der die jetzige Aufführung als Fortsetzung seiner eigenen Fellatio-Oper
„Powder Her Face“ ans Aldeburgh Festival geholt hatte,
machte es am Pult der Birmingham Contemporary Music Group offenbar
Spaß, die virtuos überdrehte Musik abspulen zu lassen.
Musikalische Weltgeschichte
Wenn auch Comic-Ereignisse wie diese Inszenierung der modernen
Spaßkultur entsprechen, braucht man dafür doch weder
Philharmoniker noch Festwochen. Wirklich glücklich machte mich
bislang nur eine einzige Festwochen-Veranstaltung: das Debüt-Konzert
des Atlas-Ensembles, in dem europäische Musiker mit Meistern
ihres Instruments aus China, Aserbaidschan, Iran, Armenien und der
Türkei zusammenspielten. Anders als beim üblichen „East
meets West“ trafen sich hier ganze Instrumentenfamilien. So
konnte man etwa Unterschiede der Lauten Ud, Pipa, Tar, Liquin und
Mandoline sehen und hören, konnte den Gemeinsamkeiten der Oboeninstrumente
Suona (China), Zuma (Türkei), Duduk (Armenien) mit der mitteleuropäischen
Oboe nachgehen. Niemals zuvor hörte man in der Streichergruppe
eines Orchesters neben Violine, Viola, Cello und Kontrabass auch
Erhu, Kamancha und Kemençe, oder neben der Harfe die ihr
verwandten Instrumente Kanun, Zheng und Santur. Die Initiative zu
diesem einzigartigen Kammerorchester, die die musikalische Weltgeschichte
in aufregender Weise in sich bündelt, ging auf Joël Bons,
den musikalischen Leiter des Nieuw Ensemble Amsterdam, zurück.
Zur Berliner Weltpremiere des Ensembles schufen Theo Loevendie (Niederlande),
Fabio Nieder (Italien), Jai Daqun (China), Faradj Karajev (Usbekistan)
und Guo Wenjing (China) neue Werke.
Karajew stellte in seinem Stück „Babylonturm“
mit Veränderungen und Überlagerungen die Verschiedenheit
der Musiksprachen und die schon bei der Stimmung beginnenden Probleme
ins Zentrum. Während Guo Wenjing in „Buddhist Temple“
von einem chinesischen Musikkonzept ausging, bemühten sich
Fabio Nieder („The Waters flow in their Way“) und Theo
Loevendie („Seyir“) um wirkliche Synthesen, wobei sie
zugleich die Eigenständigkeit der häufig nur mündlich
überlieferten Traditionen zu wahren suchten. Loevendie ließ
erst die Kulturen in ihrer ganzen Differenziertheit wie Fremde aufeinanderstoßen,
bevor er sie dann, ihrer Eigenheit entsprechend, in neue Kontexte
einfügte. Das gemeinsame Lernen, sich Zuhören und Respektieren
– eigentlich das, was Kultur ausmacht – wurde dabei
zu einer aufregenden sinnlichen Erfahrung, zu einem ernsthaften
Spaß, der Distanzen und Sprachen überbrückte. Trotz
der unterschiedlichen Herkunft gelang hier die Kommunikation, die
zwischen den Berliner Partnern Festwochen und Philharmonikern bislang
noch ausblieb.