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nmz-archiv
nmz 2002/10 | Seite 37
51. Jahrgang | Oktober
Oper & Konzert
Unerbittlich, unausweichlich und naturhaft
Leipziger Festival für Neue Musik vom 4. bis 7. Juli im
Rahmen des MDR-Musiksommers
Diese leuchtend rot fordernde Frage auf himmelblau-weißem
Plakatgrund hat es vermocht, vier Abende lang eine Menge Leute ins
Unbekannte zu locken.
Steffen Schleiermacher, Initiator des alljährlich stattfindenden
Leipziger Klangrauschfestivals drängt sein potentielles Publikum
aus der bequemen Konsumentenhaltung in eine aktive Rezipientenrolle
– und das sicher schon vor dem eigentlichen Konzertereignis.
Ist die Frage nach der Naivität überhaupt relevant? Ist
das Motto eventuell ein Alibi, es sich einmal weniger schwer zu
machen mit der Neuen Musik? Niemand wird beim Abtasten des Bedeutungshorizonts
von „naiv“ dessen pejorativen Beigeschmack in Abrede
stellen wollen, zu- mal, wenn er im Kontext Neuer Musik auftaucht.
Was halten die zum Großteil noch lebenden Komponisten davon,
sich unter diesem Vorzeichen präsentieren zu lassen?
Vieles schwingt mit, Schleiermacher entzieht sich als Moderator
der vier Konzerte geschickt bekenntnishafter Standpunkte: „Für
mich bedeutet Naivität in der Musik nicht oder wenig reflektierter
Glaube.“ Jeder der vorgestellten, teils wenig bekannten und
sehr verschiedenen Komponisten, darunter Josef Matthias Hauer, Galina
Ustwolskaja, Segej Zagny scheint eine verwertbare fixe Idee in diesem
Sinne zu haben. Olivier Messiaen ist der einzige unter ihnen, der
den Begriff Naivität in seiner positivsten Bedeutung von Unvoreingenommenheit
und Offenheit verstanden, noch zu Lebzeiten auf sich selbst bezogen
hat.
Der neue Probensaal des MDR-Orchesters feierte anlässlich
des Klangrauschfestivals sein Debüt als Aufführungsort
für Konzerte. Aufgrund der beweglichen, weil nicht vorgegebenen
Bühnensituation entstand eine sehr lebendige, angenehm entzeremonialisierte
Aufführungsatmosphäre. Schleiermacher animierte die Interpreten,
über ihre Auseinandersetzung mit den aufgeführten Werken
zu sprechen. So gelang es auf die angenehmste Weise, eine Brücke
zwischen Musikern und Publikum zu schlagen.
Zu den allabendlichen Konstanten des Festivals zählten neben
Stücken aus dem „Catalogue des oiseaux“ von Messiaen
jeweils Kompositionen für Phonola von Wolfgang Heisig. Bei
der Phonola handelt es sich um eine zu Beginn des 20. Jahrhunderts
verbreitete Klavierspielmaschine. Meist findet sie in einem Atemzug
mit Conlon Nancarrow Erwähnung, der in seinen Kompositionen
eigens für Phonola die komplexen und durch einen Pianisten
nicht mehr realisierbaren Möglichkeiten des „Klavierspiels“
auslotete. Wolfgang Heisig, Jahrgang 1952, in der Nähe von
Leipzig lebend, lässt sich offenbar gern selbst vom Klangergebnis
überraschen, welches er unter anderem durch Übertragung
von Zeichensystemen (Blindenschrift, Morsezeichen) auf eine damit
lochstreifenartig zu stanzende Papierrolle gewinnt. An anderer Stelle
erstellt er sein Tonmaterial aus dem Anteil der Tonnamen identischen
Buchstaben aus Dantes Göttlicher Komödie. Die fast skurril
wirkende demonstrative Überernsthaftigkeit in der Darbietung
ließen Heisig wohl prädestiniert erscheinen, den Auftakt
zu jedem Konzert zu geben und damit zu einer Art Maskottchen des
Festivals werden.
Zum unterhaltsamsten gereichte einem Großteil des Publikums
sicher der Satie gewidmete Abend, an dem es sowohl die Ballettmusik
„Relache“ mitsamt „Entr’acte“ inklusive
Film sowie die Bilder zum musikalisch ironisch illustrierten „Sports
et Divertissements“ zu sehen gab.
Das wahrscheinlich bedeutsamste musikalische Ereignis des Festivals
war die Aufführung von Werken der Russin Galina Ustwolskaja
durch das Leipziger Ensemble Avantgarde und den Pianisten Markus
Hinterhäuser. Ustwolskajas musikalische Sprache scheint sich
jedem Vergleich zu entziehen. Die Beschränkung auf Extreme
lässt ihre Musik unerbittlich und unausweichlich, tatsächlich
naturhaft wirken. Dabei kommt sie am Ende in der Beschreibung ihrer
Kompositionsweise als tiefreligiösen Prozess dem Bild des sich
Natur anverwandelnden Künstlers am nächsten.