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nmz-archiv
nmz 2002/10 | Seite 33
51. Jahrgang | Oktober
Oper & Konzert
Echte und falsche Solisten
Neues von Olga Neuwirth für Flöte, Klavier und Spurband
Composer in residence auf einem pulsierenden Sommerfestival zu
sein, hat nichts mit Komponierhäusl-Abgeschiedenheit und beschaulicher
Komponistenwerkstatt zu tun. Olga Neuwirths Tagesablauf ist gedrängt:
Morgens an einer neuen Oper komponieren, dann die Proben für
die Luzerner Inszenierung von „Bählamms Fest” besuchen,
die Proben für die weiteren Instrumentalaufführungen überwachen,
Werkeinführungen und Interviews geben, und nicht zuletzt mit
den Musikern an einer adäquaten Uraufführung ihres Auftragswerks
für das Festival arbeiten.
„Verfremdung/Entfremdung” ist dieses etwa elfminütige
Stück für Flöte, Klavier und 6-Spurband betitelt:
Neuwirth brachte hier zwei Instrumente zusammen, die sich eigentlich
nur schwer verbinden lassen. Zusätzlich werden beide Instrumente
mit sich selbst, genauer mit bis zu hundert „falschen“
Solisten an Flöte und Klavier konfrontiert, die vom Band zugespielt
werden. Wie oft bei Neuwirth hat das Werk auch Programm: „Das
Stück handelt von der Identität, von der Entfremdung der
beiden Solisten im Verhältnis zueinander, wie auch –
im Spiegel des Tonbands – zu sich selbst.“ Eva Furrer,
Bassflöte, und Marino Formenti, Klavier, verhalfen den Klangverfremdungen
und Klangspiegelungen zu lebendiger Spannung und räumlicher
Präsenz, zogen den Zuhörer gleichsam ins Innere des elektronisch
erweiterten Klangraums. Trotz eruptiver Ausbrüche, insbesondere
von Formenti am Klavier, und des die Instrumente multiplizierenden
Einsatzes von Elektronik, ist „Verfremdung/Entfremdung“
introvertierte Kammermusik. Den Kontrast dazu bot die 45-minütige
Fassung des Orchesterstücks „The long rain“, einer
aggressiven und bedrohlichen Musik. Das Werk für vier Solisten,
vier Ensemblegruppen, Live-Elektronik und Film, nach einer Erzählung
von Ray Bradbury (Film Michael Kreihsl) hatte Olga Neuwirth für
Luzern als reines Instrumentalstück eingerichtet. Sie wollte
ihre Musik vom dominanten Bild emanzipieren – was dem um das
Publikum herum postierten Mitgliedern des Klangforums Wien unter
Peter Rundel auch ohne Abstriche gelang.
Neuwirth fühlt sich nach eigenen Worten angezogen und herausgefordert
von einer französisch geprägten Komponiertradition: Sie
zählt sich zu „Klangsuchern“ wie Claude Debussy,
oder im zeitgenössischen Sinn zu den „Klanguntersuchern“
wie Gérard Grisey, Tristan Murail, Pierre Boulez und Luigi
Nono. Neben Neuwirths Uraufführung erklangen deshalb folgerichtig
Werke des Spektralisten Tristan Murail („Feuilles, à
travers les cloches“), der für einige Jahre Lehrer von
Olga Neuwirth war, sowie von Luigi Nono („A Pierre“,
1985).
Diese Korrespondenz zwischen Klanglichkeit und Komponist zog sich
auch durch die übrigen Aufführungen von Modern Lucerne,
in denen sich Olga Neuwirth als Composer in residence präsentierte.
Ihren „Klassiker“ „Photophorus“ für
zwei E-Gitarren stellte sie etwa in einen Zusammenhang mit Hardcore-Trio-Improvisationen
von Koch, Schütz und Studer und „Keqrops“, einer
Komposition von Iannis Xenakis für Klavier und 92 Musiker.
Ihre beiden Stücke „settori“ und „Akroate
Hadal“ nahmen an einem weiteren Konzertabend bezug auf Nonos
„Fragmente – Stille, an Diotima“ und Helmut Lachenmanns
„Streichquartett Nr. 3 ‘Grido’“.