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nmz-archiv
nmz 2002/10 | Seite 33
51. Jahrgang | Oktober
Oper & Konzert
Familiäre Entlarvungsrituale einer Klanguntersucherin
Olga Neuwirth als Composer in residence in Luzern – die
Oper „Bählamms Fest“ in einer neuen Inszenierung
Tragende Pfeiler des Lucerne-FestivalProgramms sind seit einigen
Jahren die Composer in residence. Stets ist neben dem Schaffen eines
etablierten Komponisten – in diesem Jahr Pierre Boulez –
auch das eines Vertreters oder – wie mit Olga Neuwirth –
einer Vertreterin der jüngeren Generation präsent. Jung
ist sie sicher noch, die 1968 in Graz geborene Komponistin, doch
an der Zahl der Aufführungen steht sie im Moment dem älteren
Kollegen Boulez um nicht viel nach. Im Mittelpunkt ihrer Luzerner
Aktivitäten stand die Aufführung ihrer Oper „Bählamms
Fest“. Es war die dritte Inszenierung des Werkes nach der
Wiener Uraufführung und einer Produktion in der Hamburgischen
Staatsoper.
Ein Pferd fürs „Bählamm“:
Olga Neuwirth in der Luzerner Dekoration für die Aufführung
ihrer Oper. Foto: Charlotte Oswald
Nicht nur der Mensch ist, wie es im „Wozzeck” heißt,
ein „Abgrund”. Auch die bürgerliche Familie bewegt
sich in gefährlicher Nähe zu diesem. Schließlich
besteht sie aus einer Ansammlung eben dieser „abgründigen”
Menschen. Das Gruselkabinett Familie reizt immer wieder zu literarischen,
theatralischen und musikalischen Darstellungen. Die Bestie Mensch
präsentiert sich, wenn nicht schon gleich in der Wirklichkeit,
bevorzugt auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Da fühlt
sich „Mensch” noch in rettender Distanz geborgen: ist
alles nur Theater. Doch während man im Theater verweilt, ist
andernorts schon die Realität ausgebrochen. Das Stück,
das man leicht schaudernd genießt, findet außerhalb
des Theater bereits als „Reality Show” statt.
So erging es wohl auch der Schriftstellerin Leonora Carrington,
als sie 1940, nach der Verhaftung ihres Ehemanns, des Malers Max
Ernst, in Südfrankreich ihr Stück „Baa-Lamb’s
Holidays” schrieb, eine surreale , wüste Familiengeschichte
als bildhaften Reflex auf den faschistischen Terror, als dessen
Keimzelle Carrington mit tödlichem Blick die kleinbürgerliche
Familie ausmachte. Deren verklemmte psychische Disposition samt
daraus folgenden gesellschaftlichen Aggressionen spiegelt quasi
mikrokosmisch das große „System” wider. Der familiäre
Horror korrespondiert kaum verhüllt mit dem politischen Terror.
Erkennbar wird, wo die Ursachen des Terrorsystems zu suchen sind:
In der eigenen Psyche, die sich ins Unkontrollierte, ins Irrationale
ausgießt. Das Böse nistet in einem selbst.
Olga Neuwirth und ihre Librettistin Elfriede Jelinek erkannten
die fortwirkende Brisanz des Stoffes, als sie Carringtons Stück
als Vorlage für ihre Oper „Bählamms Fest”
adaptierten. Das Werk, in Wien uraufgeführt, in Hamburg nachgespielt
und nun in Luzern zum dritten Mal neuinszeniert, sperrt sich gegen
eine allzu hurtige Dramaturgie: Das familiäre Gruselkabinett
mit bellenden Menschen-Hunden, reißenden Wölfen, blutenden
Lämmern, Kadaver-Geisterbahn im Kinderzimmer, Geistererscheinungen
und trunksüchtigen Söhnen verlockt allzu direkt zur nur
effektvollen Horror-Picture-Show. Hinter den Effekten und Tiermasken
gerät die zweite und entscheidende Ebene aus dem Blick: die
psychoanalytische Untersuchung eines gesellschaftlichen Zustands,
dessen Brüchigkeit aus der schleichenden Zerstörung familiärer
und damit überhaupt menschlicher Bindungen und Wertsetzungen
resultiert. Dieser nivellierende Prozess endete keinesfalls mit
dem Ende des Faschismus. Die Folgen bedrohen unverändert das
humane Zusammenleben einer demokratischen Sozietät, der zunehmend
die ethischen und moralischen Normen abhanden kommen. Neuwirth und
Jelinek biegen am Ende die pessimistischen Aussichten für ihre
„Heldin” Theodora zwar ein wenig ins Hoffnungsfrohe,
doch so recht zukunftsgewiss wirkt das alles nicht: Offenes Ende
eben.
Der Luzerner Aufführung, von der Japanerin Kazuko Watanabe
in Personalunion von Regisseurin, Bühnen-und Kostümbildnerin
inszeniert, gelingt es von den drei bisherigen Darstellungen am
besten, im grellen Familienschrecken die Parabel auszu- spüren
und erfahrbar werden zu lassen. Das entwickelt eine mitunter atembannende
Dichte von enormer Sogkraft: der Zuschauer-Hörer fühlt
sich fast hineingezwungen in das teuflische Ritual einer Zerstörung,
von der er ahnen kann, dass sich diese nicht nur auf dem Theater
abspielt.
Olga Neuwirths Musik umstellt den Raum, in dem sich alles ereignet,
mit Klängen, Geräuschen, elektronischen Transformationen,
heftigen Rhythmisierungen, trivialen Anspielungen und Zitaten, die
nur scheinbar den wachsenden Horror beschreiben. Vielmehr wächst
der Schrecken, das Albtraumhafte, Surreale mit unheimlicher Stringenz
aus der Musik selbst heraus, ergreift die Szene, die Figuren, die
doppelbödigen Aktionen mit einer kompositorischen Präzision
und klangmagischen Fantasie, dass man sich auf eine fast erschreckte
Art bewundernd der Tiefenschärfe dieser Musik bewusst wird.
Der Dirigent Christian Arming, neuer Musikchef der Luzerner Oper,
entfaltete die kompositorischen Schichten der Musik mit analytischer
Klarheit und hoher Transparenz im Klanglichen. Und das Luzerner
Ensemble mit Livia Budai als Mutter, Jennifer Davison als Theodora
und dem Countertenor Andrew Watts als wölfischem Jeremy an
der Spitze traf den vokalen Stil des Werkes mit sensibler Einfühlung
und plastischer Gestik.