[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2002/10 | Seite 36
51. Jahrgang | Oktober
Oper & Konzert
Neugeboren an der Südwestspitze Europas
Das Orquestra do Algarve im sonnigen Süden Portugals kann
sich hören lassen
Just an dem Wochenende, als die Fußball-WM für die
portugiesische Nationalmannschaft mit dem Achtelfinale zuende war
und die Stimmung im Lande auf Halbmast ging, trat sie im Süden
Portugals erstmals an: die 31-köpfige Mannschaft des Orquestra
do Algarve mit ihrem Trainer, sprich Director Artistico e Maestro
Titular, Alvaro Cassuto. Und um es gleich zu sagen: Das sehr jugendliche
Team im Alter zwischen 20 und 33 Jahren hatte mit seinem überaus
erfahrenen Chef (63) den ersten Auftritt bereits vor der Zugaben-Verlängerung
klar für sich entschieden – ein Gewinn für die Region
im äußersten Südwesten Europas, die sich erstmals
mit einem eigenen Orchester schmückt.
Ein ambitioniertes Ensemble:
Alvaro Cassuto und sein Orquestra do Algarve
Die internationale Ausschreibung erbrachte trotz recht bescheidener
Gehaltsangebote nicht weniger als 800 Bewerbungen aus aller Welt,
von China bis Brasilien, vor allem aber aus England, Spanien, Italien
und Frankreich; 100 Kandidaten wurden zum Probespiel nach Faro eingeladen.
Zwar wünschte man sich verständlicherweise einen erklecklichen
Anteil von Portugiesen im Ensemble, doch die Gewerkschaft verhinderte
– eher unabsichtlich – jedes freundliche Entgegenkommen,
indem sie auf anonymem Probespiel hinter dem Vorhang bestand.
Als nach Auswahl und Zusagen die Zusammensetzung des Orquestra
do Algarve feststand, siehe, da waren es fast zur Hälfte junge
Musiker aus Großbritannien, zur anderen Hälfte Spieler
aus Südafrika, Kanada sowie mehreren europäischen Ländern,
darunter keiner aus Italien, Frankreich oder Deutschland, einer
aus Portugal.
Was aber wichtiger ist als die Staatsangehörigkeit der „oa“-Mitglieder:
Sie alle sind gute, nicht wenige von ihnen ausgezeichnete Musiker,
und obwohl die meisten zum ersten Mal in ein professionelles Engagement
gehen, haben sie doch bereits Erfahrungen sammeln können in
nationalen oder internationalen Jugendorchestern, viele als Aushilfen
in hochrangigen Klangkörpern in Toronto, London oder Amsterdam.
Und sie alle wollen diesem Orchester zum Erfolg verhelfen, zum raschen
Aufstieg möglichst in die internationale Liga.
Im Tutti verstecken könnte sich allerdings auch niemand bei
einem Ensemble, das bei voller Besetzung zwei Kontrabässe aufs
Podium bringt und sechs Erste Violinen, die sich jedoch noch reduzieren,
wenn, wie im Eröffnungskonzert, einer der Konzertmeister als
Solist auftritt und der andere, von Windpocken befallen, gleich
bei mehreren Proben fehlt.
Alle sind in der gleichen Lage: Sie wollen und können sich
dort als Musiker bewähren, jeder einzelne kann sich zudem um
ein Solokonzert bewerben; nach den beiden hervorragenden Konzertmeistern,
dem Engländer Roy Theaker und dem Südafrikaner Philip
Nolte, mit Violinkonzerten von Mozart werden in der zweiten Runde
der niederländische Solocellist und die einzige, aus Bulgarien
gebürtige „Tutti“-Cellistin mit den zwei Haydn-Konzerten
antreten. Die ersten Konzerte, die mit überraschender Nüchternheit
vonstatten gingen, ohne Festakt, Ansprache oder Empfang, nahmen
für das Projekt einfach durch die Leistung des Orchesters und
seines Dirigenten ein, obwohl das Eröffnungsprogramm Risiken
nicht scheute: Rossinis Ouvertüre zur „Italienerin in
Algier“ erfordert ebenso wie Mendelssohns IV. Symphonie Brillanz
und große Präzision im Zusammenspiel, die Cassuto seinem
jungen Team in manchmal atemberaubenden Tempi abverlangt. Andererseits
zeigten alle Beteiligten hohe Qualität im wunderbar konzentriert-ruhig
musizierten Adagio-Satz von Mozarts 3. Violinkonzert G-Dur. Ein
wenig ungeliebt klang allerdings der zeitgenössisch portugiesische
Beitrag, Sérgio Azevedos Ouvertüre „Love’s
Labours Lost“, obwohl es sich um eine Auftragskomposition
für diesen Anlass handelt.
Natürlich muss ein neues Orchester in einer bislang musikalisch
sehr spärlich bedienten Region erst einmal sein Publikum finden
und an sein Angebot heranführen. Dazu sind außer den
Normalkonzerten in den sechs an der Finanzierung beteiligten Kommunen
– von Tavira nahe der spanischen Grenze bis Lagos im äußersten
Westen – auch Gesprächskonzerte in der Universität
der Algarve am Stadtrand von Faro, Veranstaltungen in großen
Hotels der Urlauber-Zentren, Einsätze von Musikergruppen in
Schulen und Kammermusikabende geplant – nicht zu vergessen
CD-Aufnahmen, die schon jetzt vereinbart sind, und zu gegebener
Zeit Tourneen. Vom Herbst an werden im Sinne einer Orchesterakademie
bis zu zehn Praktikantenplätze für den noch jüngeren
Orchester-Nachwuchs angeboten, vorrangig für Musikstudenten
und Absolventen in Portugal, die allerdings nicht Portugiesen sein
müssen.
Das alles will, in unerlässlicher Kooperation zahlreicher
Partner, erst einmal aus einem noch etwas pauschalen Konzept in
konkrete Planung entwickelt und dann in Realität umgesetzt
werden, und zwar bei einem Gesamtetat von derzeit 1,25 Millionen
Euro, wovon noch dazu 20 Prozent Sponsorenmittel oder private Zuwendungen
vorerst nur auf der Hoffnungsseite im Haushaltsentwurf erscheinen.
Der Vorsitzende des Trägervereins, Manuel Ramires Fernandes,
der seine Idee bereits sechs Jahre lang beharrlich verfolgt und
das Orchester im pränatalen Stadium durch verschiedene Krisen
gesteuert hat, ist nach dessen glücklicher Geburt erst recht
optimistisch.
Das Wichtigste aber ist geschafft: Das Orchester im Format einer
Kammerphilharmonie kann sich hören lassen. Natürlich ist
es zu früh, über einen höheren Rang in einer imaginären
internationalen Liga zu spekulieren. Aber es soll ja selbst bei
der WM vorkommen, dass gerade die vermeintlichen Außenseiter
durch spielerische Überlegenheit Furore machen.