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nmz-archiv
nmz 2002/10 | Seite 37
51. Jahrgang | Oktober
Oper & Konzert
Wo der Rahmen stimmt, gelingen auch die Inhalte
Zum diesjährigen Klavierwettbewerb „Paloma O’Shea“
in Santander
Santander ist ein Hafenort an der nördlichen spanischen Atlantikküste
mit 200.000 Einwohnern und einem diese Dimensionen weit sprengenden
Festival-Palast, der gleichwohl nachhaltig von der Bevölkerung
frequentiert wird. Es ist eine kulturträchtige Gegend, unweit
des Ortes liegt die Höhle Altamira mit 15.000 Jahre alten,
eindrucksvollen Felszeichnungen. Es ist, als wirke dieser kulturelle
Geist fort, als durchdringe er die Landschaft.
Dort findet im Abstand von zwei beziehungsweise drei Jahren eine
der größten internationalen Klavierwettbewerbe statt.
Der Wettbewerb geizt nicht und offensichtlich muss er das auch nicht.
Kapital aus einer für Spanien typischen und diesen Zweck glücklichen
Verbindung von spanischem Hochadel und industriellen Global Players
sichert das Geschehen. Eine handverlesene Jury wurde berufen, darunter
Antoni Ros Marbà (als Vorsitzender), Paul Myers, Dimitri
Bashkirow, Ralph Gothoni, Meneham Pressler, Maria Tipo oder der
Musikjournalist Peter Cossé. Die zwanzig teilweise schon
hoch dekorierten Pianisten wurden über Auslese-Wettbewerbe
in Paris, London, New York, Madrid und Moskau ermittelt. Den Kammermusikwertungen
stand das französische Ysaÿe-Quartett zur Seite, für
die Konzertprogramme konnte man das London Symphony Orchestra unter
der Leitung von Rafael Frühbeck de Burgos verpflichten. An
Geldpreisen waren 33.000 Euro für die Goldmedaille, 22.000
Euro für den zweiten Platz und 15.000 Euro für den Dritten
vorgesehen, zwölftausend Euro standen von Sony für den
Publikumspreis zur Verfügung. All dies sind Rahmenbedingungen,
die Niveau auf allen Ebenen absichert. Andere Wettbewerbe können
von solchen Voraussetzungen nur träumen.
Der Vergleich mit technisch hochgerüsteten Hochsee-Fangschiffen
mag einfallen, die ozeanweit die lukrativsten Fischbestände
erkunden. Man geht auf die Suche nach den besten, den exorbitantesten
Jungpianisten dieser Welt und nutzt alle Hebel zu ihrer Findung.
Dabei entwickelt sich das Aufgebot zur ganz eigenständigen
ästhetischen Größe. Der Wettbewerb selbst wird zum
kulturellen Event. Die Presse, zumindest die spanische, verfolgt
gespannt die Schritte von der Vorauswahl bis zur finalen Entscheidung
und begleitet sie wie eine Weltmeisterschaft im Sport. Im Bereich
der Künste war es schon immer die Musik, die solch kämpferische
Auseinandersetzungen möglich machte.
Musikwettbewerbe sind schwer. Ein Leben mit den Versuchen, zur
weltweit anerkannten Virtuosenriege zu gehören, ist noch weit
schwerer. Blickt man auf die Preisträger-Liste selbst der größten
Klavierwettbewerbe der letzten zehn oder zwanzig Jahre, dann wird
man erstaunt vermerken, dass viele der mit (Vorschuss-) Lorbeer
und besten Wünschen ins Leben Entlassenen längst schon
wieder von der Bildfläche verschwunden sind. Auf der anderen
Seite gibt es überragende Pianisten, vielleicht wäre auf
Olli Mustonen zu verweisen, die bei großen Wettbewerben kaum
in Erscheinung traten und sich ihren Platz im Musikleben auf andere
Wege sicherten. Trotz solcher wenig verheißungsvoller Vorgaben
gelten Klavierwettbewerbe immer noch als profunde Durchlauferhitzer
für große pianistische Laufbahnen. Und diese antworten
auf die Härte des Lebens ihrerseits durch Verschärfungen.
Eine Facette davon ist, dass Jurys, die etwas auf sich halten,
mit der Vergabe von Spitzenpreisen immer knausriger werden. Die
Angst des Jurors vor dem ersten Preis gleicht einem Rückzugsgefecht:
Man möchte sich gegenüber den Fährnissen des Musikbetriebs
ein Hintertürchen offen lassen, zugleich weiß man über
die Schwachstellen der Wettbewerbe bescheid. Das sind das einer
ehrlichen Wertung widerstrebende Gerangel um ästhetische Schulen
oder Lehrmeinungen und die Erkenntnis, dass die Auswahlkriterien
spürbar Alterungsprozessen unterworfen sind. Die Individualität
der Musiker wird von der punktebringenden Bewältigung etwa
eines Liszt oder Rachmaninoff nicht selten verdeckt. Innerhalb dieses
Umfelds hat es der nach seiner Gründerin und Mäzenatin
Paloma O’Shea benannte, jetzt zum 14. Male ausgetragene Klavierwettbewerb
geschafft, sich im Kreise der weltweit bedeutendsten Wettbewerbe
(neben zum Beispiel den Wettbewerben in Moskau, Warschau, Brüssel,
Bozen oder der Van Cliburn-Competition in Fort Worth) zu etablieren.
Was von hier kommt hat Gewicht. Und das hat sich der Wettbewerb
in Santander in den dreißig Jahren seines Bestehens durch
exorbitanten Aufwand redlich erkämpft.
Haben wir nun also einen neuen Pianisten, der Geschichte schreiben
wird? Die Jury zeigte sich bedeckt, wollte diesmal keinen ersten
Preis vergeben (unter Protest des Publikums). Sieger mit einem zweiten
Preis wurde der 18-jährige in Russland geborene Israeli Boris
Giltburg, dritte Preise gingen an Soyeon Lee aus Korea und an den
in den USA lebenden Chinesen Ning An. Giltburg erhielt in Übereinstimmung
zur Jury auch den Publikumspreis. Er hatte sich in der Zwischenausscheidung
bei Beethovens zweitem Klavierkonzert den Super-Gau eines Aussetzers
geleistet, was wohl mitverantwortlich für die Verweigerung
der Goldmedaille war (abgesehen davon, dass bei einzelnen Etappen
immer wieder schwankende Qualität der einzelnen Ausführenden
zu vermerken war). Aber seine Darbietung des 3. Klavierkonzerts
von Belá Bartók im Finale war fraglos ein exorbitantes
musikalisches Ereignis. Giltburg ist ein von Musik Besessener. Die
Technik der Finalisten vermochte durchweg zu verblüffen. Allen
war von den Lehrern eingeschärft worden, wie elementar Artikulation
und Präsenz beim Wettbewerb ausschlaggebend sein würde.
Die Jury hob denn auch die außerordentlichen musikalischen
Fähigkeiten der Finalisten hervor und vermisste das Genie (das
einen ersten Preis rechtfertigen würde). Freilich stehen die
Bedingungen eines Wettbewerbs einem wie auch immer zu definierenden
Genie-Begriff ohnehin im Wege. Dennoch ließ das Spiel von
Giltburg (Jahrgang 1984, er war fast der Jüngste des Wettbewerbs)
viel von Eigenwilligkeit der Gestaltung und von elementarer Musikalität
und Impulsivität ahnen. Da ist ein junger Musiker, der auf
neue Art in den Klavierklang hineinhört, der den Bartók’schen
Dissonanzen mit geradezu präziser Nachdrücklichkeit nachlauschte
und sie wie Gespinste aus einer anderen Welt zum Klingen brachte.
So hat der Wettbewerb doch wieder erbracht, was man schon immer
von Wettbewerben forderte: Ein Musiker wurde entdeckt, auf den man
in Zukunft hören wird, ja hören muss. Er ist noch sehr
jung, aber er besitzt Wachheit wie unbedingte, konzentrierte Emphase.
Nichts, so ist zu vermuten, dürfte ihn von seinem künstlerischen
Weg ablenken.