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nmz-archiv
nmz 2002/10 | Seite 5
51. Jahrgang | Oktober
Feature
Von Berlin über Palästina nach New York
Bewusst unakademisch: Stefan Wolpe zum 100. Geburtstag ·
Von Albrecht Dümling
Am 2. Mai 1927 veranstaltete die Berliner Novembergruppe einen
denkwürdigen Konzertabend mit drei Klaviersonaten von Hansjörg
Dammert, Stefan Wolpe und H. H. Stuckenschmidt. Die drei jungen
Komponisten waren miteinander befreundet, weshalb sie gemeinsam
ein ästhetisches Programm formulierten. Es handele sich bei
diesen Sonaten um „eine Musik formal experimentellen Charakters,
bei der das Thematische und Modulatorische zugunsten rein rhythmischer
und dynamischer Gestaltung in den Hintergrund tritt. Man kann auf
diese Stücke am besten den Ausdruck ‚stehende Musik’
anwenden, da die formalen Spannungen und Entspannungen hier aus
dem Prinzip der Wiederholung (im Gegensatz etwa zur Variation) entwickelt
werden“. Wolpes Komposition beruht auf einem unablässig
wiederholten Zentralklang, der sich im ersten Satz in furiose Bewegung
auflöst und im zweiten Satz in Statik verfällt. Es sei
damit beabsichtigt, hieß es auf dem Programmzettel, „den
Begriff der musikalischen Zeit bis an die Grenzen des Möglichen
zu analysieren“. Im Unterschied zum Entwicklungsprinzip Ludwig
van Beethovens, dessen 100. Todestag gleichzeitig begangen wurde,
inszenierten die drei jungen Wilden eine statische Revolution, einen
Aufbruch durch Stillstand, der noch Jahrzehnte später seine
Wirkung zeigte – etwa bei Wolpes Schüler Morton Feldman.
Stefan Wolpe zu Gast im
Black Mountain College 1953. Foto: Clemens Kalischer
Bei aller äußeren Motorik bleibt ein großer Teil
von Wolpes Musik im Prinzip statisch. Das gilt ebenso für seine
gänzlich untheatralischen Revuen „Zeus und Elida“
oder „Schöne Geschichten“ (1927-1929) wie für
das „Piece of Embittered Music“ aus der „Zemach
Suite“ (1939), das trotz hektischer Bewegung harmonisch auf
der Stelle tritt. Auch die immens schwierigen „Enactments
für drei Klaviere“ (1953) kreisen wie ein Mobile in sich,
weshalb Austin Clarkson, Gründer und Präsident der Stefan
Wolpe Society, sie mit dem Regenwald verglich: „Jede Stelle
ist gleich dicht und gleich wichtig.“ Der Komponist analysierte
den Begriff der musikalischen Zeit, um ihn außer Kraft zu
setzen. Die Musik verwandelte er dabei von einer Zeitkunst in eine
räumliche Kunstform wie Malerei und Skulptur. Ahnherr solcher
Ideen war Erik Satie, auf dessen raumgreifenden Minimalismus Stuckenschmidt
in Paris gestoßen war. Auch auf den Weimarer Bauhaus-Festen
hatte er gemeinsam mit Wolpe Musik von Satie gespielt. Beide waren
im Prinzip Autodidakten. Während aber Stuckenschmidt im Schönberg-Kreis
Anschluss fand, blieb Wolpe, der sich vergeblich um die Aufnahme
in die Busoni-Klasse bemüht hatte, sein Leben lang ein Außenseiter.
Individuum und Gruppe
Die Außenseiter-Rolle war möglicherweise eine Reaktion
auf die frühe Ablehnung durch das musikalische Establishment.
Man darf spekulieren, was aus Wolpe geworden wäre, wenn Busoni
ihn als Schüler akzeptiert hätte. Statt dessen suchte
er Anschluß an außermusikalische Kreise wie Dadaismus,
Bauhaus, Arbeiterbewegung, Kibbuzim und die Malergruppe der Abstrakten
Expressionisten. Gemeinsam mit Stuckenschmidt hatte Wolpe in Berlin
eine interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft gegründet:
„Wir machten die drolligsten literarischen Experimente, schrieben
verrückte Texte gespickt mit hochtrabenden, meist selbstgebastelten
Fremdwörtern, komponierten Schlager mit atonaler Harmonik und
zwölftönigen Melodien, entwarfen neue ästhetische
Weltanschauungen und dergleichen mehr.“ 1929 schloss er sich
der Arbeitermusikbewegung an. Wie Eisler wurde er musikalischer
Leiter einer AgitpropTruppe, für die er Lieder und Songs komponierte.
Enthusiastisch notierte er damals in sein Tagebuch: „Die Kunst
besteht in einer grandiosen Umwandlung des populären Musik-(Melos-)Materials.
Die Selbstaufhebung der Schlagercharaktere durch den neuen proletarischen
Vitalismus. Eine Musik, die imstande ist, diesen realistischen Vitalismus
des Proletariats musikalisch auszudrücken, kann niemals selbst
in einfachster tonaler Struktur ausdruckslos sein.“ Das Prinzip
einer stehenden Musik konnte er hier kaum noch aufrechterhalten,
weshalb die in diesen Jahren komponierten proletarischen Märsche
wegen ihrer Spannung von Statik und Dynamik faszinieren. Möglicherweise
ist die 1933 vollendete Komposition „Marsch und Variationen
für zwei Klaviere“, rhythmisch stampfend und zugleich
reich figurativ, überhaupt als sein bestes Werk anzusehen.
Obwohl Wolpe für verschiedene Besetzungen schrieb, hat er
für das Klavier seine gelungensten Werke geschaffen. Nach frühem
Klavierunterricht hatte ihm 1919 eine wohlhabende Berliner Jüdin
ein Studio mit Bechsteinflügel zur Verfügung gestellt,
was er für autodidaktische Studien nutzte. Stuckenschmidt lernte
ihn als „phänomenalen Klavierspieler“ kennen, der
mit explosivem Ausdruck Skrjabin-Sonaten und Bartóks Suite
op. 14 interpretierte. Wie für Eisler war für Wolpe der
Begriff des Stils irrelevant. Dass in seinem Oeuvre hochchromatische
Kompositionen im Geiste Weberns neben einfachster Diatonik stehen,
war ästhetisches und politisches Programm. Entsprach 1932/1933
die Diatonik in „Marsch und Variationen“ dem proletarischen
Vitalismus, so führte ihn das Palästina-Exil zur Entdeckung
modaler Skalen aus arabischen Traditionen. Mit seiner undogmatischen
Integration verschiedener Tonsysteme war der dem Zionismus eher
distanziert gegenüberstehende Wolpe verwandt mit Béla
Bartók. Eine Verbindung von Zwölftönigkeit und
modaler Diatonik findet sich in seinen in Palästina entstandenen
Chören, aber auch im Ballett „The Man from Midian“
(1942), dem aufrüttelnden „Battle Piece“ für
Klavier (1943) oder der „Yigdal“-Kantate (1945).
Obwohl es zwischen Hanns Eisler, Stefan Wolpe und Wladimir Vogel
zahlreiche biographische Parallelen gibt – nach avantgardistischen
Anfängen hatten sie sich der Arbeiterbewegung zugewandt, bevor
sie ins Exil getrieben wurden –, gingen sich die drei Komponisten
aus dem Wege. Dabei war Eisler anwesend (ebenso wie Marc Blitzstein
und Artur Schnabel), als im Mai 1927 die drei „Stehenden Musiken“
gespielt wurden. Wolpe dürfte ihn um seine Erfolge in der Arbeitermusikbewegung
beneidet haben und Vogel um dessen Zulassung zur Busoni-Klasse.
Er selbst suchte andere Gruppen, nicht zuletzt die der abstrakt
expressionistischen Maler Franz Kline, Willem de Kooning und Mark
Rothko, mit denen er in New York engen Umgang pflegte. Im Bereich
der Musik wurde er im Exil ein Einzelgänger, der – ähnlich
isoliert wie Webern – keinerlei Rücksicht auf Interpreten
oder Hörer nahm und sich vielmehr heroisch dem Markt verweigerte.
Kompositionen wie seine „Enactments“ besitzen in ihren
extremen Anforderungen an Spieler und Hörer durchaus utopischen
Charakter und nehmen in ihrer Ereignisdichte die Musik Brian Ferneyhoughs
vorweg. Die raison d’être der Form beschrieb der Komponist
selbst so: „Unaufhörlich aufgerissen, geöffnet und
aus sich selbst erneuert, in die Extreme der Gegensätze zusammengebracht
zu werden.“ Und eine Folge von Studien beschrieb er als „Displaced
Spaces, Shocks, Negations, A New Sort of Relationship in Space,
Pattern, Tempo, Diversity of Actions, Interactions and Intensities“.
Die Kunst brauchte er zur Selbstverwirklichung und zur Entdeckung
seines Ichs. Seine Werke sind inzwischen dank der gemeinsamen Aktivität
der Stefan Wolpe Society New York und des Peer-Musikverlages auf
Noten und CDs gut zugänglich, was auch dem Wolpe-Zyklus der
Berliner Festwochen zum 100. Geburtstag des Komponisten zugutekam.
Gerade hier aber zeigte sich, dass man neben dem Hören auch
die Analyse braucht, um einen Zugang zu den späteren Partituren
zu finden.
Niemals ein Akademiker
Der am 25. August 1902 in Berlin geborene Stefan Wolpe hat das
Gymnasium kurz vor dem Abitur verlassen und nur ein einziges Semester
an der Berliner Musikhochschule studiert. Es ist deshalb eine merkwürdige
Ironie, dass er bei den Darmstädter Ferienkursen, wo er 1956,
1960, 1961 und 1962 unterrichtete, als „akademisch“
abgelehnt wurde.
Obwohl Wolpe keineswegs orthodox komponierte, wirken seine Spätwerke
ähnlich spekulativ-abstrakt wie die von Leopold Spinner, Nikos
Skalkottas oder Wladimir Vogel. Die Ablehnung traf ihn tief, hatte
er sich doch ab 1955 mit Plänen zur Rückkehr nach Deutschland
befasst und dazu Briefkontakt mit alten Freunden wie Stuckenschmidt,
Adorno und Vogel aufgenommen. Aber weder in Berlin, wo er fast ein
Jahr mit einem Fulbright Stipendium lebte, noch in Darmstadt, wurde
Wolpe stärker zur Kenntnis genommen. Da sich auch der sonst
so aufgeschlossene Boris Blacher nicht für ihn einsetzen wollte,
verzichtete er schweren Herzens auf seine Remigrationspläne
und kehrte nach dem Bankrott des Black Mountain College/North Carolina,
wo er von 1952-1956 gelehrt hatte, zum Privatunterricht zurück.
Es liegt auch in der Tragik des Exils begründet, wenn der in
Berlin und Palästina so starke Praxisbezug sich in den USA
auf Komponieren und Unterrichten reduzierte. Wie sehr sich Wolpe
weiterhin nach Aktion sehnte, geht aus seiner Weiterverwendung dieses
Begriffes hervor. So sprach er in Parallele zur Aktionsmalerei von
„musikalischem Aktionismus“ und bezeichnete 1957 einen
Zyklus von vier Werken als „ein Konzept von Handeln, Erfinden
und Erkennen“.
Anders als in Europa wurde Wolpe in New York zum begehrten und
erfolgreichen Lehrer. Gestützt auf die Bauhaus-Tradition, auf
den Dadaismus, den engen Kontakt zu Malern sowie seinen viermonatigen
Unterricht bei Webern in Wien vermittelte er seine Ideen an Jazzmusiker
wie George Russel und Tony Scott, an Rundfunk-, Fernseh- und Theaterpraktiker
wie Stanley Applebaum, Elmer Bernstein sowie an Avantgardisten wie
Herbert Brün, Morton Feldman, Ralph Shapey, David Tudor und
Charles Wuorinen. Erst jetzt entfaltete sein Konzept einer stehenden
Musik seine volle Wirkung. Nicht zuletzt Morton Feldman entwickelte
diese Ideen weiter, wobei er sich ebenfalls an Konzepten der abstrakten
Malerei orientierte. Wie Wladimir Vogel, der im Schweizer Exil einer
jüngeren Generation seine Erfahrungen weitergab, hatte sich
Wolpe erst im Exil zum wirkungsvollen Anreger und Mittler entwickelt,
wobei auch für ihn das Unterrichten in den letzten Jahrzehnten
fast noch größeres Gewicht erhielt als das Komponieren.