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nmz-archiv
nmz 2002/10 | Seite 10
51. Jahrgang | Oktober
Kulturpolitik
Romantischer Mythos und Fernweh ade
Die ehemalige „Kulturhauptstadt“ Hamburg verliert
ihre Reize
Seit dem Umzug von Universal und dem Deutschen Schallplattenpreis
Echo nach Berlin hat Hamburg seinen Status als Musikhauptstadt verloren.
Seither fragen sich nicht nur Hanseaten, was nun aus der Elbmetropole
wohl werden wird. Der Hamburger Journalist und Seemannssohn Jürgen
Stark zieht Bilanz…
Ein Jahrhundert lang erprobten Privatiers rund um die berühmte
Reeperbahn eigenes Entertainment. „Schausteller“ nannte
man jene Leute, die Kuriositäten zur Schau stellten und dafür
Eintrittsgelder nahmen. Bereits ab 1900 zeichnete sich Hamburg als
Ausgangspunkt für populäre Kultur aus, mit Knopfs Lichtspieltheater
eröffnete am Spielbudenplatz das vermutlich erste Kino der
Welt – in den achtziger Jahren wurde in den alten Räumen
der Docks-Musikklub neu eröffnet. Es wurden damals auch Gorillas
aus Übersee gezeigt, man sang, trank und tanzte in zahlreichen
Bars und Cafés. Während in Berlin „Dreigroschenoper“
und Comedian Harmonists für Furore sorgten, war in Hamburg
hauptsächlich die Kultur des kleinen Mannes zu finden, inspiriert
auch durch den Hafen, der als „Tor zur Welt“ für
romantischen Mythos und weltläufiges Fernweh sorgte. Das Kulturdrama
der dreißiger Jahre beendete dann den Entertainment-Beginn
in Berlin und Hamburg, die NS-Diktatur machte aus dem Land eine
finstere Provinz. Mit den Nazis stürzte das „Entartete-Kunst-Deutschland“
vor allem in Berlin ab, nach Kriegsende besiegelte der Vier-Mächte-Status
der Alliierten die Zerstückelung der Stadt. „Mach Schau!“,
so schallte es in Hamburg den Beatles und anderen jungen Musikern
entgegen, die im Rotlichtmilieu der kleinen und großen Unterweltler
nach Raum für neue Musik suchten. Der Rest ist Legende. Star-Club-Macher
Manfred Weißleder wurde von den Hamburger Behörden wie
ein Verbrecher behandelt, immer wieder baten die einflussreichen
Elbvorortler die Hamburger Politiker um Schließung des Star
Clubs, da sich nachts die jungen Teenagerinnen aus den Villenfenstern
abseilten um heimlich an den wilden Konzerten mit den noch wilderen
jungen Engländern und Deutschen teilzunehmen. Wenn deren Väter
dort mit hochgeschlagenem Mantelkragen auf Brautschau für eine
Nacht waren, war das natürlich etwas anderes, vor allem: heimliches.
Weißleder kostete der Krieg mit den Behörden schließlich
die Gesundheit, einer der legendärsten Musikklubs der Welt
konnte sich nicht dauerhaft bei hoher Brandung über Wasser
halten. Die spießige hanseatische Pfeffersack-Aristokratie
blieb diesem Ansatz bis heute treu. Im vom Establishment ungeliebten
Underground formierte sich auch nach der Star-Club-Ära stets
wieder unbürgerliches Entertainment, eine vitale Subkultur
gab über Jahre dem Land stets frische Impulse.
Fast alles im Eimer: Blick
in den Hamburger Hafen, ehemals das Tor zur Kulturwelt.
Foto: Sven Ferchow
Die Clubszene der Stadt ebnete vielen Künstlern den Weg zum
Weltruhm, das Onkel Pö im Stadtteil Eppendorf war die Rampe
für internationale Weltkarrieren wie die von Helen Schneider
und Al Jarreau. Die „Hamburger Szene“ um Udo Lindenberg
schaffte den bundesweiten Durchbruch als Station und Motor eigenständiger
Rockmusik und einer dabei einst noch heftig umstrittenen Deutschsprachigkeit.
Die „Hamburger Schule“ mit Bands wie Tocotronic wies
mit einem Diskurs-Rock zuletzt noch auf die innovative Kraft der
Szene hin, die auch immer im Kontext zur Medienhochburg gesehen
werden konnte. Die Prinz-Kette startete hier mit dem Tango-Vorläufer
und auch Tempo, das postmoderne Zentralblatt des achtziger Jahre
Zeitgeistes, wurde in Hamburg gemacht. Der Popkurs an der Hamburger
Hochschule für Musik und Theater begann hier bereits vor zwanzig
Jahren „Coaching“ und „Professionalisierung“
zu buchstabieren als es andernorts noch lediglich „Nachwuchswettbewerb“
hieß. Bis zum Ende des letzten Jahrhunderts war Hamburg Musikhauptstadt,
denn die Musikindustrie profitierte vom vitalen Kulturleben der
Metropole. Hier schaffte der Deutsche Schallplattenpreis ECHO seinen
Durchbruch, hier sitzen (noch, nächstes Jahr gehen auch sie
an die Spree) alle Branchenverbände, jede zweite LP/CD des
Landes kam von Alster und Elbe und lange vor der Love Parade wurde
auf St. Pauli mit dem „Tanz in die Freiheit“ der erste
deutsche Musikkarneval erfunden. Doch das ist nun alles reif fürs
Museum, die Geschichte wurde gemacht, der Buchdeckel kann geschlossen
werden. Verzweifelt versuchten in den letzten Jahren Kulturschaffende
und Musikfirmen gegen den Trend zu laufen, Projektideen gab es viele,
vor allem St. Pauli, die „geile Meile“ (Udo Lindenberg),
wollte man revitalisieren und daraus einen musikalisch inspirierten
Entertainment-Knotenpunkt machen.
Alles für die Katz, fast alles im Eimer, Hamburgs Weichensteller
im Senat verhinderten echte und wirklich umfassende Hilfe für
den Humus. Die dümmsten Politiker des Landes regierten über
Jahrzehnte feist und technokratisch an zentralen Bedürfnissen
der Metropole vorbei. Statt auf das vor allem auch touristische
Zugpferd St. Pauli zu setzen, jenen unterhaltsamen und legendären
Rummelplatz samt weltbekanntem Ruf, hatte man bereits in den sechziger
Jahren Pläne vorgelegt, die das gesamte Viertel zum Abriss
freigeben wollten um dort eine „Büro-City Ost“
zu bauen – was Springers „Hamburger Abendblatt“
in Titelstories laut bejubelte. Da sich aber zu der Zeit auch noch
genügend Hans-Albers-Nostalgie bei lokalen und einflussreichen
Kaufleuten hielt, entging das Viertel diesem terroristischen Planieranschlag.
Ähnlich verlief es auch mit der ortsansässigen Musikindustrie
und deren Szene, die aus Sicht des etablierten Hansemuffels nicht
weniger anrüchig als das Rotlichtviertel wirkte. Die staatstragende
E-Kultur glänzte mit Prachtbauten und Prachtgeldern für
Opernhäuser und Theater, Krümel vom Kuchen für die
Kultur der Kleinen, der Jugend, der Unkonventionellen gab es stets
in minimalster Dosierung. Als Leistungsträger war die Musikwirtschaft
den Hanseaten unbekannt: Als etwa Konsul Schnabel unlängst
eine Übersicht der wichtigsten Superlative der Stadt herausbrachte,
war darin noch der kleinste Kleingartenverband enthalten –
nicht aber die ortsansässige, international vernetzte Musikindustrie.
Ignoranz olé: Nicht einmal 20.000 Mark konnte die Wirtschaftsbehörde
2001 noch auftreiben, um ein Konzept für den „Musikstandort
St. Pauli“ und ein dort geplantes „Musikzentrum“
realisieren zu lassen.
Den Crash der IT-Branche begleitete die Stadt aber freudig mit
Steuermillionen; in der Böckmannstraße soll ebenfalls
mit Steuergeldern die größte Moschee des Landes für
die seit dem 11. September 2001 berüchtigte islamische Muslimszene
des Nordens gebaut werden (ein fragwürdiges Politikum der ganz
besonderen Art!) – aber diverse Musikklubs mussten schließen,
weil sie die ständig steigenden Betriebskosten nicht mehr erwirtschaften
konnten. St. Pauli wirkt auf den Betrachter heute bei Tag derart
heruntergekommen, dass nun der Totalabriss vielen fast schon als
Chance erscheint, zumal die EU aus Sanierungstöpfen hier demnächst
ein Fass aufmachen will. Doch Sanierung wird Hamburg nicht mehr
helfen, wie die ultraschicke Entwicklung am Hafenrand bereits deutlich
macht. Wo einst Schiffe aus aller Welt anlegten und Güter verfrachtet
wurden, dominiert hier zunehmend das neue deutsche Einheitsdesign
aus Stahl und Glas, welches mehr Ähnlichkeiten mit dem Berliner
Sony-Center als mit der Kulisse aus dem legendären St. Pauli-Streifen
„Große Freiheit Nr. 7“ aufweist. Die zahlreichen
Musicals und „Dungeon“-Programme machen jetzt Schau
wie bei McDonald‘s, mit Geschmacksstoffen und berechneter
Wirkung – es wird alles glatt und seelenlos und beliebig und
austauschbar. In Berlin ist Kultur eine Option und Hoffnung, ob
die Rechnung aufgeht, wird sich zeigen. Für musikkulturellen
Boom und das Entstehen relevanter Künstlerviertel benötigt
man echten Wildwuchs im unberechenbaren und unüberschaubaren
Humus. Das war St. Pauli, aber das haben die Stadtmacher zerstört
und verkommen lassen – und genau davon haben wir in Deutschland
generell herzlich wenig.
Wenn man bei Paris an das Quartier Latin und den Montmartre denkt,
bei London an Soho und bei New York an die Bronx, dann sollte klar
werden, dass Künstler keine Reihenhauskolonien und Schlafstädte
benötigen sondern wilde Urbanität. Wenn nun Hamburg seine
Fährschifffahrt nach England beziehungsweise Harwich an Cuxhaven
abtritt und in diesen Tagen ernsthaft über das Ende des legendären
Sonntags-Fischmarktes in der Lokalpresse diskutiert wird, weil man
ja für die neuen Blaumann-Anzüge der Polizei sparen müsse,
dann wird erkennbar, dass diese Stadt das bekam, was sie verdient:
einen peinlichen Schill-Senat, dessen Provinzialität nicht
mehr zu überbieten ist. Auch Hamburgs Kultursenatorin Dana
Horakova hat seit Amtsantritt keine Erklärung über den
Zusammenhang von Kultur und Milieu vor Ort zustande gebracht. Wahrscheinlich
wartet sie gespannt auf den Tag, an dem sie den endlich antiseptisch-cleanen
„Freizeitpark St. Pauli“ eröffnen kann, ohne Sex-Etablissements
und Live-Musik, mit kleinen toten Gedenktafeln für die Beatles,
die Rattles, Hans Albers, das Salambo, die berühmte Hure Domenica
– und ganz vielen tollen Supermärkten.