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nmz-archiv
nmz 2002/10 | Seite 1
51. Jahrgang | Oktober
Leitartikel
Klima-Wandel
Das Hauen und Stechen ist erst mal vorbei, das grausame Gezerre
um die Macht in Berlin. Keine Finte, keine verletzende Schlag- und
Schusstechnik wurde ausgelassen in der persönlichen Auseinandersetzung,
im Aufrechnen wechselseitig diagnostizierter Kardinalfehler. Da
könnte man eigentlich glücklich sein, dass die Künste,
die Bildungspolitik und natürlich unser zierlicher kleiner
Musikwinkel in diesem Verteilungsgemetzel praktisch keine Rolle
spielten. Ein bescheidener vorsommerlicher PISA-Schlenker –
das war’s dann schon. Parteienübergreifend.
Doch leider: Kein echter Grund zur Freude. Unser aller geliebtes
Areal der Kreativität, der Fantasie, der kulturvollen Menschenbildung
verliert im gesamtgesellschaftlichen Kontext weiter an Bedeutung.
Daran wird der alte neue Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin
emsig zu arbeiten haben. Die Künste bleiben dotterzarte Verfügungsmasse
zwischen den knochenharten scharf rechnenden Machern unserer Tagespolitik.
Das wird weiter Wirkung zeigen im Detail: Ob Opernhäuser,
ob Musikschulen, ob Ganztagsbetreuung in der Schule oder Einkaufsmöglichkeit
der Stadtbibliothek – jeder Plan, jedes Projekt dieser sogenannten
weichen Standortfaktoren muss sich zunehmend messen lassen an der
heiligen Sankt Machbarkeit (welchselbige bekanntlich aus Excel-Tabellen
samt Budgetplänen und dem dahinter versammelten kulturellen
Sachverstand hauptberuflicher Rechenkünstler besteht).
Was aus diesem Dilemma helfen kann, ist sein Gegenstand: Kulturpolitik.
Bis jetzt oft missverstanden als Trainingsfeld für persönliche
Eitelkeiten, Besserwisserei und konsequentes Verfolgen übersichtlicher
Eigeninteressen hat eine professionell konfigurierte und dennoch
gern hochmoralisch betriebene Kulturpolitik allein die Chance, kulturellen
Zielen gesellschaftliche Bodenhaftung zu verschaffen. Dies setzt
einen gewissen Konsens der Kulturbeflissenen voraus, der sich unter
dem Druck grassierender Nöte leichter einstellen sollte als
in der Fettlebe. Zu den positiven Signalen in ersehnter Richtung
zählen eine ständig wachsende Präsenz des Deutschen
Kulturrates in allen wesentlichen Politikfeldern mit sichtbaren
Folgen – und erste kräftige Lebenszeichen des Deutschen
Musikrates nach langer Zeit.
Mut macht, dass sich vor allem die ausgeprägten Individuen
im Musikbereich aufeinander zubewegen. Es treffen sich Profis und
Laien, Musikindustrielle und Pädagogen. Die Schnittmenge gemeinsamer
Interessen sowie (hört, hört) Werte stellt sich als überraschend
reichhaltig heraus. Da haben Lernprozesse stattgefunden, die eine
solide Grundlage abgeben können für unser zentrales Aufgabenfeld
der Zukunft: Selbstbewusste Kulturpolitik, die Rechenschiebern sagt,
was machbar ist.