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nmz 2002/10 | Seite 1
51. Jahrgang | Oktober
Leitartikel
Die Stadt, der Kulturdezernent und der Tod
Die Entmündigung der Kommunen trifft vor allem die Kunst
· Von Gerhard Rohde
Die Notzeichen mehren sich: München, Frankfurt am Main, Berlin
ohnehin schon seit langem, schicken ihre SOS-Rufe aus. Auf die vielen
kleineren Kommunen hört schon keiner mehr. Den Städten
geht die finanzielle Puste aus: immer mehr vom Gesetzgeber ihnen
auferlegte Verpflichtungen bilden einen krassen Gegensatz zu sinkenden
Steuereinnahmen. So steigt unaufhörlich die Verschuldung und
der Kommunalaufsicht, in der Regel in Gestalt des landeseigenen
Innenministers, fällt nichts anderes ein, als die Gemeinden
mit strengsten Auflagen zu Etatdisziplin anzuhalten.
In Nordrhein-Westfalen müssen schon zwei Dutzend größere
Orte der Kommunalaufsicht ihre Etatpläne einschließlich
detaillierter Sparvorschläge vorlegen. In Hessen sind die fünf
kreisfreien Städte praktisch unter Vormundschaft der Landesregierung
gestellt, man denkt aber immerhin darüber nach, durch entsprechende
Gesetzesänderungen zu erreichen, dass bei künftigen Beschlüssen
der Legislative derjenige zu zahlen hat, der diese Beschlüsse
erlässt. Darf man das als Zeichen für eine neue Nachdenklichkeit
nehmen?
Schließlich findet sich in unserem Grundgesetz, aus dem
bei jeder Sonntagsrede gern feierlich zitiert wird, auch der Artikel
28, in dem den Kommunen die Selbstverwaltung einschließlich
der finanziellen Selbständigkeit zugewiesen wird. Aus gutem
Grund: Weil nämlich die Gründungsväter der Bundesrepublik
wussten, dass der organische Aufbau einer demokratischen Ordnung
am besten und sinnstiftendsten von unten nach oben erfolgen sollte.
Wenn Demokratie in der kleinsten Zelle funktioniert, dann lässt
sich das Prinzip auch leichter auf die größere Organisation
eines Staatswesens übertragen. Das hatte sich für einige
Jahrzehnte seit Gründung unserer Bundesrepublik leidlich eingespielt.
Jetzt aber scheinen Politik und Gesellschaft vom Teufel geritten
zu sein. Sinkende Steuereinnahmen, steigende finanzielle Verpflichtungen
– die Gründe dafür dürfen als bekannt vorausgesetzt
werden – lassen die Finanzgewaltigen in Bund, Ländern
und Gemeinden durchdrehen. Dass die Städte bei dem würdelosen
Gerangel meist den kürzeren Hebel in Händen halten, liegt
in der Natur einer Machtverteilung von oben nach unten. Als Außenstehender,
der in Wirklichkeit ja keiner ist, weil auch er in irgendeiner der
vielen betroffenen Gemeinden lebt, fragt man sich allmählich,
warum nicht endlich eine der großen Städte oder womöglich
gleich und am wirkungsvollsten der Deutsche Städtetag Verfassungsklage
erhebt und die Rechte der Städte aus Artikel 28 reklamiert.
Damit würde natürlich nicht das Steueraufkommen automatisch
steigen, aber das Gericht könnte eine neue Verteilung des Steueraufkommens
skizzieren und vor allem dem Bund eine Frist für diese Neuordnung
setzen, die nicht auf den Sanktnimmerleinstag verschoben werden
kann.
Die Entmündigung der Städte muss endlich gestoppt werden,
nicht zuletzt deshalb, weil die obrigkeitlich verordneten rigorosen
Sparmaßnahmen vor allem die Bereiche treffen, in denen sich
das, was man urbanes Leben nennen könnte, konkretisiert: In
den Theatern, Konzertsälen, Museen, Literaturhäusern,
in den Bürgerhäusern und den vielen anderen Stätten,
an denen sich die Menschen einer Stadt versammeln: um die Stadt
als „ihre“ Stadt zu begreifen. In Frankfurt am Main
haben das einst Walter Wallmann und Hilmar Hoffmann als Oberbürgermeister
und Kulturdezernent begriffen: dass eine Stadt auch ein kulturelles
Zentrum sein muss, um ihre Funktion als „Civitas“, als
sinnvolle Versammlung ihrer Bürger zu erfüllen. Solche
Perspektiven scheinen kommunaler Politik, sei es aus finanzieller
Not, sei es, was noch schlimmer wäre, aus Uneinsichtigkeit,
zunehmend abhanden gekommen zu sein. Wir sprachen neulich mit einem
höheren städtischen Bediensteten (Ort und Name beliebig
austauschbar), der meinte, eine Klage vor dem Verfassungsgericht
würde keinen Erfolg haben, weil die Städte doch noch ein
großes Sparpotenzial bei ihren freiwilligen Leistungen besäßen,
speziell bei der Kultur.
Das aber ist eben das Verheerende: dass selbst in den gehobenen
Köpfen der Rathausinsassen, bis hin zu den weitgehend machtlosen
Kulturdezernenten, eine verwirrte Vorstellung von Sinn und Aufgabe
der Kultur in einer Stadt vorherrscht. Der Titel von Fassbinders
umstrittenen Frankfurt-Stück ließe sich mühelos
und ohne antisemitische Applikationen auf die Kulturpolitik unserer
Städte umformulieren.
Glücklicherweise gibt es noch Einzelkämpfer, wie den
Oberbürgermeister der Stadt Landshut, Josef Deimer, der einmal
zum Thema Musikschulen (auch eine sogenannte freiwilige Leistung)
feststellte: „Eine Stadt, die auf sich hält, kann bei
den Sing- und Musikschulen nicht mehr von freiwilligen Leistungen
sprechen, die man gnädigerweise gibt. Eine Stadt, die etwas
auf sich hält, die ein kultureller Mittelpunkt sein will, muss
eine Musikschule haben.“ Das wäre sozusagen das Wort
für alle Tage, nicht nur für Sonntagsreden.