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nmz-archiv
nmz 2002/10 | Seite 44
51. Jahrgang | Oktober
Nachschlag
Angenehme Orte
Festivals mit zeitgenössischer Musik – vor knapp einem
Jahr wurde diesbezüglich eine breite und heftige Diskussion
losgetreten. Die Frage war, ob heutige Festivalstrukturen noch den
gegenwärtigen schöpferischen wie interpretatorischen Ansprüchen
genügen können.
Jetzt will sich der Deutsche Musikrat zusammen mit den polnischen
Kollegen im Rahmen des Warschauer Herbstes auch dieses Themas annehmen:
„Festivals Neuer Musik – eine Plattform für Kooperationen“.
Man ist am richtigen Ort, denn der Warschauer Herbst, der vor allem
in den 60er und 70er Jahren als Schaufenster neuer östlicher
Ansätze, als Transmissionsriemen für westliche Avantgardismen
und auch als subversives Element gegenüber einer quasi-sozialistisch
geprägten Parteiästhetik fungierte, hat in der Folgezeit,
verstärkt dann nach der Wende, erleben müssen, dass man
nicht einfach weitermachen könne wie bisher. Die politische
Brisanz des Anderen, gar des widerständigen Na-schens an ungern
gesehenen Früchten ist dahin, des weiteren schaffen heutige
ästhetische Ansätze kaum mehr den Spannungsrahmen, den
die sperrigen Projekte vor 30 Jahren boten. Das aber, was heute
vielleicht an deren Stelle treten könnte, die Produkte des
mit Elektronik und Computertechnologien auffrisierten Undergrounds
– Warschau hat hier einiges vorzuweisen – haben in Ost
wie West noch nicht den Ritterschlag der etablierten Festivals und
ihrer Kritikerriegen erhalten, streben ihn zumeist auch nicht an.
Hier haben die etablierten Festivals einiges an Neukonturierungs-Arbeit
zu leisten, wenn sie nicht mehr und mehr ins Abseits geschoben werden
wollen. Denn die Funktion der zeitgenössischen Musikbörse,
die lange als zusätzliches Standbein wirkte, beginnt sich immer
mehr aufzuweichen. Unübersehbar wachsen neue Festivalstrukturen
mit Neuer Musik heran, die immer mehr Resonanz finden. Es sind solche,
die auf den ersten Blick regionaler gebunden sind, an denen man
aber immer weniger vorbei kann. Sie sind undogmatischer in ihrer
Struktur und öffnen der Musik andere Räume. Zu denken
wäre an Festivals wie zum Beispiel Rümlingen, Ulrichsberg,
Schreyahn oder das in den letzten Jahren enorm aufgeblühte
Festival im österreichischen Schwaz. Hier geht es ungezwungener
zu, Musik mischt sich mit Literatur oder anderen Künsten, sie
selbst ist unterschiedlichen Stilformen offen. Das Ambiente –
die Landschaft, die Struktur der Bevölkerung, regionale Besonderheiten
– spielt eine nicht unbeträchtliche Rolle und entspannt
das künstlerische Tun. Hierher kommen Menschen, die man in
Konzerten mit Neuer Musik in den Ballungsräumen häufig
schmerzlich vermisst: Lehrer, Ärzte, Architekten, Wirtschaftsleute,
Angestellte, Arbeiter. Der Umgang mit zeitgenössischer Musik
präsentiert sich auf dieser Basis sehr gelöst , gewinnt
Züge des Angenehmen.
So dargeboten mag sich verwirklichen, was viele Komponisten oft
vom Konzertpublikum mehr oder weniger vergeblich fordern: Vorurteilsfreies
Zuhören. Das Außerordentliche (und es ereignet sich viel
Außerordentliches an diesen Orten) muss sich nicht demonstrieren.
Und das ist nicht das Schlechteste, wenn es um Wahrnehmung und Erfahrung
von neuer Musik geht. Auch in diese Richtung gäbe es wohl für
die etablierten Festivals Weitungs-Spielraum.