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nmz-archiv
nmz 2002/10 | Seite 25
51. Jahrgang | Oktober
Pädagogik
Königliche Präsenz – angeregte Diskussionen
Bericht vom Kongress der „International Society for Music
Education“ in Norwegen
Die „International Society for Music Education“ ISME
veranstaltete ihren Zweijahreskongress diesen Sommer im norwegischen
Bergen. Eröffnet wurde er durch Ihre Majestät Königin
Sonja von Norwegen. Anwesend waren gut 700 Musikpädadagogen
aus 51 Ländern. Vertreter aus den osteuropäischen und
vorderasiatischen und afrikanischen Ländern waren zwar noch
nicht zahlreich, aber immerhin besser vertreten als im Jahre 2000.
Thema des Kongresses war – norwegisch – „Sampspel“.
Dieser Begriff lässt, ähnlich dem deutschen Wort „Zusammenspiel“
– großen Assoziationsspielraum zu. So bündelte
er eine Themenvielfalt, die sich vom Ensemblespiel über die
Verbindung verschiedener musikalischer Genres und Kulturen bis hin
zum mechanisch-präzisen Zusammenspiel von Mensch und Maschine
erstrecken konnte.
Instrumente einer Insel:
Deutsche Teilnehmer am Stand des nächsten ISME-Kongresses
in Teneriffa 2004. Foto: Matthias Wiemhöfer
Die fulminante Eröffnung wurde durch den Voice-Performer und
Sound-Poeten Jaap Blonk aus Holland eingeleitet, der mit Nonsense-Sprache
das musikalisch-kulturell Überbrückende virtuos vermittelte.
Danach folgte ein gelungenes klangliches Experiment, wiederum eine
Referenz an das Kongressthema: Es spielten und sangen gleichzeitig
eine Bigband, ein Marimbaensemble, Kouame Sereba von der Elfenbeinküste
auf der größten je gesehenen Maultrommel, ein norwegischer
Chor, ein Jugendorchester, mehrere norwegische Volksmusikensembles
und Solisten auf der Violine, der Trompete, dem Flügel und
am Schlagzeug.
Dass „Sampspel“ nicht nur Friede und Freude sein kann,
wurde in der Eröffnungsrede von Bergljót Jónsdóttir,
der Leiterin der internationalen Bergen Festspiele, deutlich. Offiziell
eröffnet wurde der Kongress schließlich durch Ihre Majestät
Königin Sonja von Norwegen. Sie forderte in ihrer Begrüßungsansprache
die Teilnehmer dazu auf, durch ihren privilegierten Beruf zu einem
internationalen Verstehen beizutragen und „in diesen Tagen
in unserem schönen Land“ die dazu nötigen Kontakte
zu knüpfen und zu vertiefen.
Die Organisatoren sahen zum gegebenen Thema „Sampspel“
drei Schwerpunkte, sogenannte „Focus Aeras“ vor. Hier
ging es erstens um die Verbindung von musikalischen Kulturen, zweitens
um die Verbindung von Musikpädagogik mit andern Disziplinen
und drittens um die Verbindung von musikalischen „Virtualitäten
und Realitäten“. Wohl am meisten offene Fragen blieben
nach dem Vortrag von Morton Subotnick, Hauptredner zur Thematik
Virtualitäten und Realitäten: Er stellte ein Kompositionsprogramm
vor, das den üblichen Zeichnungsprogrammen nachempfunden ist.
Es sollte die Schwellenängste vor Musik mindern, das Kind zum
Experimentieren anregen und zum Interesse an der Musik führen.
Doch: Dient man der Musik, wenn man sie auf den kleinsten gemeinsamen
Nenner mit den bildenden Künsten reduziert? – Darf man
annehmen, dass ein mit der Maus herumspielendes Kind eine innere
Vorstellung von Klängen entwickelt und von selbst (so die Meinung
des Redners) ein intrinsisches Interesse an der traditionellen Notation
entwickelt, die ihm der Computer auch erklären soll? –
Ist ein einsames Kind am Kompositionsprogramm musikalisch tätig
oder wird es sogar antimusikalisch sozialisiert? – Diese von
Subotnick unterschlagenen Fragen lösten Diskussionen aus, luden
zum Weiterdenken ein und zum Entwerfen von Möglichkeiten, solche
Sachverhalte näher zu erforschen. Hier zeigen sich Chancen
der ISME-Konferenzen, auch provokativ zu sein und unfertige Gedanken
zur Weiterentwicklung in die musikpädagogische Weltgemeinde
zu streuen.
Es gab darüber hinaus auch einen geografisch orientierten
Themenschwerpunkt: Unter der speziellen Rubrik „Nordic Sampspel“
fanden Diskussionen und Workshops statt, die als Manifestation der
Musikerziehung in den nordeuropäischen Regionen gedacht waren
und deren besondere Charakteristik darstellten. In der Tat, die
Sprachbarriere ist groß, und leider werden die nordischen
Ansätze viel zu wenig von anderen Ländern aufgenommen.
Für deutschsprachige Musikpädagogen ist immer wieder die
Tatsache bestaunenswert, wie nahe am Menschen die Musikpädagogik
gedacht wird und welchen wissenschaftlichen Paradigmen sich die
Skandinavier verpflichtet fühlen: Verschiedentlich wurde in
Vorträgen des „Nordic Sampspels“ auf den Körperbezug
der Musikerfahrung verwiesen. „Sinn“ zu erfahren sei
ein Hauptziel ästhetischer Erziehung und Sinnerfahrung heiße,
nicht nur „auf etwas zu zeigen, nicht nur etwas anzuschauen
oder anzuhören“, sondern „nach etwas zu greifen“,
sich ein Hörerlebnis zu eigen zu machen.
Damit stellen sich vor allem Finnen und Dänen in einen phänomenologisch-existenzialistischen
Gedankenzusammenhang und berufen sich auf Forschungsmethoden phänomenologischer
Prägung, vor allem in Gedankenverbindung mit dem französischen
Philosophen Maurice Merleau-Ponty. Könnte der Körperbezug
in der Musikerfahrung vielleicht in Zukunft sogar ein Schlüsselgedanke
sein, wenn es darum geht, virtuelle Musik von gelebter Musikalität
pädagogisch zu trennen?
Die ISME gliedert sich in sieben, nach musikpädagogischen
Berufsgruppen geordnete „Commissions“ (näheres
dazu unter www. isme.org.). Jede dieser Commissions führt jeweils
eine Woche vor dem Hauptkongress einen auf ihre Berufsspezialität
bezogenen Vorkongress durch. Eine der aktiveren und die bestbesuchte
dieser Untergruppen ist in diesen Jahren die ECME-Commission, die
diesmal mit über hundert Teilnehmenden an der Kopenhagener
Lehrerhochschule tagte. Als Eröffnungsredner sprach der emeritierte
Psychobiologe, Kinderpsychologe und Hirnforscher Colwyn Trewarthen
aus Schottland. Er erforscht zur Zeit das Phänomen „Musikalität“
als „kommunizierte Vitalität“. Entsprechend seiner
Eröffnungsrede bündelten sich auch die meisten Beiträge
– bei dem Fokus auf Early Childhood nahezu unvermeidlich –
um einen kommunikationsorientierten Musikunterricht in den ersten
acht bis zehn Lebensjahren. Dennoch spiegelte sich in den Vorträgen
eine Vielfalt der wissenschaftlichen Ansätze, die Spannbreite
erstreckte sich von groß angelegten empirischen Untersuchungen
(W. Gruhn: Musical Expertise – Training or Talent?) über
phänomenologische Ansätze bis zu Workshops und Methodenansätzen,
die Theorie und Praxis verbinden (W. Sims: Connecting Children with
Music of Many Styles and Genres). Anschließend an die Vortragszeit
wurden jeweils Diskussionsgruppen gebildet. So wurde diese Konferenz
nicht nur zum Ideenmarkt, sondern zu einem Ort ernsthafter gegenseitiger
Weiterbildung. Im Anschluss an diese erfolgreiche Vorkonferenz wird
in den nächsten Monaten der Versuch unternommen werden, eine
ECME Europa zu bilden. Die nordischen Länder werden dazu ihren
hohen Vernetzungsgrad nutzen, so dass eine erste Konferenz –
geplant im Jahre 2003 – von Dänemark aus organisiert
wird und zu der dann die angrenzenden Länder eingeladen sein
werden.
Soundworlds to discover: Unter diesem Thema wird in zwei Jahren
der nächste ISME-Kongress in Teneriffa stattfinden. Man wird
sich an diesem Kongress vermehrt um die Teilnahme von Studierenden
kümmern wollen, eventuell Credits für den Besuch der Konferenz
vorschlagen. Es ist zu hoffen, dass die in Bergen vermittelten Ideen
dort weiter wachsen, dass in den soundworlds, den zu entdeckenden
Klangwelten, weiterhin eine Körperlichkeit berücksichtigt
wird und dass der dringend gebotene Fokus auf zeitgenössische
Musik musikpädagogisch gedeiht.