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nmz-archiv
nmz 2002/10 | Seite 38
51. Jahrgang | Oktober
Jazz, Rock, Pop
Der Heide in der Südkurve
Brit-Pop revisited: Neues von David Bowie, Pet Shop Boys und
Oasis
Brit-Pop geht ins fünfte Jahrzehnt – und die alten Helden
melden sich zurück. Die Beatles schaffen es noch posthum problemlos
an die Spitze der Charts und David Bowie, der die 70er Jahre, die
Pet Shop Boys, die die 80er Jahre, und Oasis, die die 90er Jahre
verkörperten, sind mit neuen Produktionen auf dem Markt.
Vor dem 11. September war David Bowie in Woodstock, in einem neuen
Studio mitten in einem alten Palast, den ein verrückter Milliardär
der 20er Jahre auf der Spitze eines Berges errichtet hatte. Er sah
im Morgengrauen Hirsche im Naturpark grasen und schrieb Verse von
apokalyptischer Wucht, in denen das Wort Angst eine zentrale Rolle
spielte. Im Nachhinein sieht es jetzt so aus, als sei er ein Prophet,
der Stahl in Stahl und Stein und Glas rasen sieht. Aber das sind
Künstler- und Pop-Mythen – und das weiß auch David
Bowie. Er dementiert, er verweist auf Dylan-Songs, aus denen sich
alles, was jemals geschah und noch geschehen wird, ableiten lässt.
Aber selbst der Gestus der Bescheidenheit wird Teil seiner Legende.
Bowie war schon immer, in jeder Verkleidung, cool.
Sein neues Album heißt „Heathen“, „Heide“,
und es ist das Beste seit vielen Jahren. David Bowie, das Chamäleon,
der Maskenträger, der als „Ziggy Stardust“ die
unbewussten Wünsche, Träume und Fantasien einer ganzen
Generation auf seinen androgynen Körper projizierte, der dann
in raschem Wechsel der Thin White Duke, ein verloren-nihilistischer
Junkie in der Grenzstadt Berlin der späten 70er Jahre und ein
fast schon herrenmenschlicher Disco-Gigolo in der New-Romantic-
und Prä-Yuppie-Ära der frühen 80er Jahre war, hat,
so scheint es, endlich seine Rolle gefunden: die des coolen Gentlemans
und nachdenklichen Künstlers. Alles ist, so wie es immer war,
singt er und alles ist anders. Er vermisst ein wenig die Unruhe
der Jugend, die ihn einst beinahe das Leben kostete, und hat sich
mit den großen Mächten des Lebens abgefunden. Auf seinem
neuen Album erweist er, mit der Cover-Version „Cactus“,
den Pixies seine Reverenz, die er zusammen mit Sonic Youth für
die wichtigste, folgenreichste und doch halb vergessene Band der
frühen 80er Jahre hält, er singt als begnadeter Performer
in seinen neuen Live-Acts als Zugabe fast das ganze düster-visionäre
Album „Low“ nach und er protegiert als Veranstalter
Rock’n Roll-Schizos wie Daniel Johnston. In einer britischen
Umfrage wurde er eben, noch vor Mick Jagger, John Lennon und Elvis
zum größten Pop-Star des 20. Jahrhunderts gekürt
und er hatte die Chuzpe, sich auf dem Höhepunkt der hysterischen
New Economy-Hausse als Mutter aller Ich-AGs auf dem Markt die nötigen
Multi-Millionen für ein sorgenfreies Bohème- und Bürger-Leben
zu besorgen.
Pop und Intelligenz, das ist, freilich verschärft, radikaler
und fragiler als bei Bowie, auch das Motto der mittlerweile zwanzigjährigen
Karriere der Pet Shop Boys. „Liebe, Glamour und Marxismus“,
überschrieb Jutta Koether, selbst in persona eine radical-chic-Glamour-Variante,
Künstlerin und eigenwillige Pop-Schreiberin, vor knapp zehn
Jahren in der SPEX ihren Bericht über das damals sechste PSB-Album.
Neil Tennant und Chris Lowe schafften es, scheinbar anstrengungslos,
Disco und Diskurs, mit einer Formel ihrer Salon-Bolschewismus-Kollegen
von Heaven 17, Penthouse und Pavement, zu verbinden. Im düsteren
Thatcher-England der frühen 80er Jahre machten sie ausgerechnet
aus Eleganz eine Waffe im sozialen Kampf und verwirrten so die neo-liberalen
Möchtegern-Eliten, die mit den Stellungswechseln der Pet Shop
Boys sichtlich überfordert waren. Tennant und Lowe verkörperten
eine Gay-Ästhetik, die nichts mit der beruhigenden Grellheit
vertrauter Schwulen-Selbstdarstellungen zu tun hatte, sondern präzise,
klar und „scharf“ war, mehr mit Barthes und Derrida
als mit Halbwelt-Milieu zu tun hatte und jede Form von Identitäts-Politik
vermied. Anno 2002 auf ihrem achten Album „Release“,
ist der Pet Shop Boys-Pop natürlich nach wie vor in erster
Linie Sequencer und Samples. Aber die Samples werden, wie man besonders
am „Schlagzeug“ merkt, natürlicher; und verblüffenderweise
darf sogar der einstige Smiths-Guitarrero und -Mastermind Johnny
Marr wie auch auf dem neuesten Oasis-Album seine Beiträge liefern.
Die Pet Shop Boys sind auf „Release“ hymnisch und melancholisch,
Euphorie und Trauer verbinden sich in Neil Tennants Stimme auf unnachahmliche
Weise und er reflektiert auch zunehmend über Verlust und Abwesenheit.
Die neuesten Technologien werden zur großen Metapher –
und die e-Mail ist mit einem Mal die Kommunikationschance all derer,
die sich nichts mehr zu sagen haben.
Wenn Noel Gallagher reden möchte, dann geht er in die Kneipe.
Seine Interessen sind klar: Fussball, Frauen – und die Beatles.
Gallagher versteht sich mit Bruder Liam (meistens) nicht und er
ist auch alles andere als ein Sandwichmann seiner selbst: das macht
ihn sympathisch. In einer Zeit permanenter PR für das Idiotischste
verkündet er ohne mit der Wimper zu zucken, dass keiner, der
älter ist als 30 mehr einen vernünftigen Song schreiben
kann. Gallagher ist 35 und das einzige, was ihn tröstet, ist
die Tatsache, dass Mick Jagger und Paul McCartney seine Väter
sein könnten. Und wer das neue, fünfte Oasis-Album „Heathen
Chemistry“ hört, dem wird auch bewusst, dass Gallagher
in einer Gesellschaft hysterischer Claqueure ein altbritischer Gentleman
und Meister des Understatements ist. Denn dieses Album steht in
der allerbesten Beat- und Punk-Tradition: es ist hymnisch und roh
beziehungsweise „heidnisch“, es ist Medium und Träger
für all die Energien, die zur Sprache kommen müssen. Und
dass die Gallagher-Brüder, die eigen(-ständig) sind wie
wenige Bands der 90er, auch wenn sie gern so tun, als seien sie
nur ein Beatles-Fanklub, Virtuosen einer selten gewordenen innigen
Ironie sind, das zeigen sie auch, wenn sie ihre Single, die ein
kleines, treibendes Dreiminuten-Meisterwerk ist, „the hindutimes“
nennen.
Helmut Hein
David Bowie: Heathen Sony
Pet Shop Boys: Release EMI/Parlophone
Oasis: Heathen Chemistry Sony